Die Schuld
ein Anwalt diese Frage nicht stellte, schon gar nicht in einem Gefängnis.
»Ja«, antwortete Tequila leise.
»Mit fünf Schüssen.«
»Ich dachte, es wären sechs gewesen.«
So viel zum Verfahren. Sechzig Tage, dann kann ich die Akte zuklappen, dachte Clay. Ein einfaches, schnell abzuwickelndes Geschäft. Man bekannte sich schuldig, dafür kam der Angeklagte mit einer lebenslangen Haftstrafe davon.
»Ging es um Drogen?«, fragte Clay.
»Nein.«
»Haben Sie ihn ausgeraubt?«
»Nein.«
»Sie müssen mir schon helfen, Tequila. Es gab doch einen Grund für Ihre Tat, oder?«
»Ich kannte ihn.«
»Das war's? Sie kannten ihn? Das ist alles, was Sie anzubieten haben?«
Tequila nickte, sagte aber nichts.
»War ein Mädchen im Spiel? Haben Sie ihn mit Ihrer Freundin erwischt? Sie haben doch ein Mädchen, oder?« Clays Mandant schüttelte den Kopf. Nein.
»Ging es in irgendeiner Hinsicht um Sex?«
Nein.
»Reden Sie mit mir, Tequila. Ich bin Ihr Anwalt und der einzige Mensch auf diesem ganzen Planeten, der Ihnen helfen will. Geben Sie mir was, womit ich arbeiten kann.«
»Ich hab manchmal Drogen bei Pumpkin gekauft.«
»Na endlich. Seit wann?«
»Seit ein paar Jahren.«
»Okay. Hat er Ihnen Geld oder Stoff geschuldet? Oder haben Sie ihm was geschuldet?«
»Nein.«
Clay atmete tief durch. Erst jetzt fielen ihm Tequilas Hände auf, die mit Schnitten übersät und so stark angeschwollen waren, dass man keinen einzigen Knöchel erkennen konnte. »Prügeln Sie sich häufiger?«
Eine vage Kopfbewegung - vielleicht ein Ja, vielleicht ein Nein. »Nicht mehr.«
»Aber früher?«
»Wie's bei Jungs halt so ist. Mit Pumpkin hab ich mich auch mal geprügelt.«
Nachdem Clay ein weiteres Mal tief durchgeatmet hatte, hob er seinen Stift. »Besten Dank für Ihre Hilfe, Sir. Wann genau haben Sie sich mit Pumpkin geprügelt?«
»Ist schon lange her.«
»Wie alt waren Sie damals?«
Tequila zuckte die Achseln, als hätte man ihm eine besonders dumme Frage gestellt. Clay wusste aus Erfahrung, dass Mandanten ein schlechtes Langzeitgedächtnis hatten. Sie erinnerten sich, dass man sie gestern ausgeraubt oder letzten Monat verhaftet hatte, aber was länger als dreißig Tage zurücklag, verlor sich im Nebel. Wenn man auf der Straße lebte, musste man sich darauf konzentrieren, den jeweiligen Tag zu überstehen. Für Erinnerungen blieb keine Zeit. Außerdem gab es in der Vergangenheit dieser Menschen nichts, das nostalgische Anwandlungen gerechtfertigt hätte. Eine Zukunft hatten sie nicht, also war auch die kein Orientierungspunkt.
»Ein Kind.« Ob es eine Angewohnheit war oder an seinem schlimm zugerichteten Kopf lag - Tequila blieb bei seinen einsilbigen Antworten.
»Also, wie alt?«
»Vielleicht zwölf.«
»In der Schule?«
»Beim Basketball.«
»War es eine richtige Schlägerei, mit Blut und gebrochenen Knochen?«
»Nein. Ein paar ältere Jungs haben uns getrennt.«
Clay legte den Hörer für einen Moment auf den Tisch, um sich über seine aussichtslose Verteidigungsstrategie Gedanken zu machen. Meine Damen und Herren Geschworenen, mein Mandant hat in einer verdreckten Seitengasse Mr Pumphrey (der unbewaffnet war) aus nächster Nähe durch fünf oder sechs Kopfschüsse getötet, und zwar mit einer gestohlenen Waffe. Für seine Tat gab es zwei Gründe: Er kannte ihn und hat sich vor ungefähr acht Jahren einmal mit ihm auf dem Spielfeld geprügelt. Vielleicht klingt das nicht besonders sinnvoll, meine Damen und Herren, aber wir alle wissen, dass diese Gründe in Washington, D. C., genauso gut sind wie irgendwelche anderen. Clay griff wieder nach dem Hörer. »Haben Sie Pumpkin häufig getroffen?«
»Nein.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen, bevor Sie ihn erschossen haben?«
Ein Achselzucken. Wieder das Problem mit der Erinnerung. »Haben Sie ihn einmal pro Woche getroffen?«
»Nein.«
»Einmal im Monat?«
»Nein.«
»Zweimal im Jahr?«
»Könnte hinkommen.«
»Als Sie ihn jetzt getroffen haben, hatten Sie da Streit mit ihm? Helfen Sie mir, Tequila, allmählich wird es mir zu mühsam, die Details aus Ihnen herauszuquetschen.«
»Wir hatten keinen Streit.«
Tequila legte seinen Hörer hin und bewegte den Kopf sehr langsam vor und zurück, als wollte er etwas gegen seine Schmerzen tun. Es war offensichtlich, dass er litt. Die Handschellen schienen an seinen geschwo llenen Gelenken in die Haut zu schneiden. Nachdem er den Hörer wieder aufgenommen hatte, sagte er: »Ich erzähl Ihnen, wie's war.
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