Die Schuld
Rebecca, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Die Komplikationen ihrer bisherigen Beziehung hätten völlig ausgereicht, um zehn Ehen zu zerstören. Vor langer Zeit hatte Clays Vater ihren Vater verklagt; wer den Prozess gewonnen oder verloren hatte, ließ sich nicht mehr recht nachvollziehen.
Ihre Familie stammte aus der alteingesessenen Gesellschaft von Alexandria, während Clay in deren Augen nur der Sohn eines Verlierers war. Rebeccas Eltern waren stark rechtsgerichtete Republikaner, was man von Clay nicht behaupten konnte. Weil ihr Vater durch rücksichtslose Naturzerstörung im Norden Virginias Bauland für die wuchernden Vorstädte von Washington erschloss, wurde er allgemein »Bennett der Bulldozer« genannt. Da Clay nicht gefiel, was Bennett trieb, überwies er ohne es an die große Glocke zu hängen - Geld an zwei Organisationen von Umweltschützern, die gegen diese Erschließung kämpften. Rebeccas Mutter hatte nichts außer dem gesellschaftlichen Aufstieg der Familie im Sinn und hätte es am liebsten gesehen, wenn ihre beiden Töchter schwerreiche Männer geheiratet hätten. Clay hatte seine Mutter seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Gesellschaftliche Ambitionen waren ihm fremd. Und Geld hatte er auch nicht.
Seit fast vier Jahren gab es zwischen Clay und Rebecca jeden Monat heftige Auseinandersetzungen, die in den meisten Fällen von ihrer Mutter angezettelt wurden. Beider Liebe, Lust und Entschlossenheit, allen Widrigkeiten zu trotzen, hatten ihre Beziehung bisher am Leben gehalten. Doch in letzter Zeit glaubte Clay bei Rebecca eine gewisse Ermüdung wahrzunehmen, einen sich unmerklich steigernden Überdruss, der vermutlich etwas mit dem Älterwerden und dem permanenten Druck ihrer Familie zu tun hatte. Mittlerweile war sie achtundzwanzig. An einer beruflichen Karriere hatte sie eigentlich kein Interesse. Sie wollte einen Ehemann und eine Familie. Sie sehnte sich nach müßigen Tagen im Country Club, wo sie ihre Kinder verwöhnen, Tennis spielen und mit ihrer Mutter essen gehen konnte.
Als plötzlich wie aus dem Nichts Paulette Tullos auftauchte, zuckte Clay erschrocken zusammen. »Sie haben dich wie der drangekriegt und dir einen Mordfall angehängt, oder?«, fragte sie schmunzelnd.
»Warst du dort?«
»Ich habe das Unheil kommen sehen und beobachtet, wie es seinen Lauf nahm. Leider konnte ich nichts für dich tun.«
»Wirklich sehr aufmerksam. Ich werde mich revanchieren.« Wäre in Clays Büro ein weiterer Stuhl gewesen, hätte er Paulette gebeten, sich einen Moment zu setzen, doch für zusätzliche Möbel gab es keinen Platz. Allerdings benötigte Clay auch in der Regel keinen zweiten Stuhl, da seine Mandanten sowieso immer im Gefängnis saßen. Gemütliche Plauderstündchen waren in der täglichen Routine des OPD nicht vorgesehen. »Wie stehen meine Chancen, mir diesen Fall vom Hals zu schaffen?«
»Schlecht bis aussichtslos. Auf wen wolltest du ihn denn abwälzen?«
»Eigentlich hatte ich an dich gedacht.«
»Tut mir Leid, ich habe bereits zwei Mordfälle. An deiner Stelle würde ich mich nicht darauf verlassen, dass Glenda dir hilft, den Fall loszuwerden.«
Von seinen Kollegen im OPD war Clay mit Paulette am engsten befreundet. Sie stammte aus einer üblen Gegend der Stadt und hatte College und Jurastudium mühsam in Abendkursen absolviert. Trotz allem schien ihr Aufstieg in die Mittelklasse vorgezeichnet gewesen zu sein. Dann lernte sie einen wohlhabenden alten Griechen kennen, der ein Faible für junge schwarze Frauen hatte. Er heiratete sie und brachte sie in einer komfortablen Wohnung im Nordwesten Washingtons unter. Kurz darauf entschloss er sich überraschend, doch wieder in Europa zu leben, und entschwand über den Ozean. Paulette vermutete, dass er dort eine oder zwei weitere Ehefrauen hatte, aber das bereitete ihr kein sonderliches Kopfzerbrechen. In finanzieller Hinsicht hatte sie keinen Grund zum Klagen, und sie war alles andere als vereinsamt. Nach zehn Jahren funktionierte das Arrangement mit ihrem Mann bestens.
»Ich habe gehört, was der Staatsanwalt gesagt hat«, berichtete Paulette. »Wieder ein Mord auf offener Straße, aber das Motiv ist unklar.«
»Das kam in der langen Geschichte dieser Stadt schon öfter vor«, bemerkte Clay.
»Aber es scheint kein Motiv zu geben.«
»Irgendein Motiv gibt's immer - Geld, Drogen, Sex oder auch nur ein Paar neue Nikes.«
»Stimmt es, dass der Junge bisher nie durch Gewalttätigkeit aufgefallen ist? Kein ellenlanges
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