Die Schuld
überflüssig waren. Wer aus dem Haus der Erlösung ausbrechen wollte, musste Hammer und Meißel mitbringen - und die Bereitschaft, einen Tag lang ununterbrochen zu arbeiten.
Clay parkte seinen Honda Accord direkt vor dem ehemaligen Lagerhaus und fragte sich, ob er aussteigen oder lieber Vollgas geben sollte. Über der massiven Sicherheitstür hing ein kleines Schild: DELIVERANCE CAMP. PRIVATGRUNDSTÜCK. BETRETEN VERBOTEN. Als ob irgendjemand den Wunsch verspüren könnte, freiwillig da hineinzuspazieren. Vor dem Gebäude lungerten genau die Charaktere herum, mit denen man in dieser Gegend rechnen musste: die übliche Horde abgebrühter Gettokids, die mit Sicherheit mit Drogen handelten und genügend Waffen dabei hatten, um die Polizei fern zu halten, außerdem zwei alkoholisierte, nebeneinander torkelnde Penner womöglich Familienangehörige, die Verwandte im D-Camp besuchen wollten. Clays Job hatte ihn schon in die meisten ungemütlichen Stadtteile Washingtons geführt, und mittlerweile hatte er genügend Erfahrung gesammelt, um den Furchtlosen mimen zu können. Ich bin Anwalt und geschäftlich hier. Halten Sie den Mund, und treten Sie zur Seite. In fast fünf Jahren beim OPD war noch nicht einmal auf ihn geschossen worden.
Während er seinen am Bordstein geparkten Wagen abschloss, musste er sich bekümmert eingestehen, dass möglicherweise keiner dieser Kriminellen Interesse hatte, sein mickriges Auto zu klauen, das mittlerweile zwölf Jahre und zweihunderttausend Meilen auf dem Buckel hatte. Nehmt es, sagte er im Stillen.
Mit angehaltenem Atem ging er los. Er ignorierte die neugierigen Blicke der auf dem Bürgersteig herumlungernden Jugendlichen. Hier gibt's im Umkreis von zwei Meilen außer dir keinen einzigen Weißen, dachte er. Nachdem er auf den Klingelknopf neben der Tür gedrückt hatte, meldete sich eine krächzende Stimme über die Gegensprechanlage. »Wer ist da?«
»Mein Name ist Clay Carter. Ich bin Rechtsanwalt und habe um elf Uhr eine Verabredung mit Talmadge X.« Noch immer davon überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste, sprach er den Namen sehr deutlich aus. Am Telefon hatte er die Sekretärin gebeten, ihm den Nachnamen zu buchstabieren, doch sie hatte ihm barsch geantwortet, dies sei kein Nachname. Was war es dann? Einfach ein X. Ob es ihm passe oder nicht.
»Moment«, sagte die Stimme, und Clay wartete. Er zwang sich verzweifelt, nur die Tür anzustarren und alles andere zu ignorieren. Zu seiner Linken glaubte er ganz in der Nähe eine Bewegung wahrzunehmen.
»Du bist also Anwalt, ja?«, ertönte das hysterische Organ eines schwarzen Jugendlichen, so laut, dass es niemandem entgangen sein konnte.
Als Clay sich umdrehte, fiel sein Blick auf die schrille Sonnenbrille der Nervensäge. »Allerdings«, antwortete er so cool wie möglich.
»Nie und nimmer«, sagte der Junge, hinter dem sich mittlerweile eine kleine Gruppe Neugieriger gebildet hatte.
»Tut mir Leid, aber es ist so.«
»Du kannst kein Anwalt sein, Mann.«
»Keine Chance«, sagte ein anderer aus der Gang.
»Ganz sicher, dass du Anwalt bist?«
»Ja«, antwortete Clay, der wusste, dass er wohl oder übel mitspielen musste.
»Welcher Anwalt fährt so eine beschissene kleine Karre?« Clay wusste nicht, was ihn mehr verletzte - das Gelächter der Gang oder die Tatsache, dass der Junge Recht hatte. Dann machte er alles noch schlimmer. »Den Mercedes fährt meine Frau.« Ein misslungener Versuch, witzig zu sein.
»'ne Frau hast du auch nicht. Du hast kein' Ring.«
Gibt's was, das denen nicht aufgefallen ist?, fragte Clay sich. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür mit einem Klicken. Statt sich fluchtartig in das Gebäude zu retten, gelang es ihm, einigermaßen cool einzutreten. Der Empfangsbereich glich einem Bunker: Boden und Wände aus Beton, Stahltüren, keine Fenster, eine niedrige Decke, ein paar grelle Lampen. Eigentlich fehlten nur noch Sandsäcke und Waffen. Hinter einem großen Behördenschreibtisch saß eine Frau, die auf zwei Leitungen gleichzeitig telefonierte. »Er kommt gleich«, sagte sie, ohne aufzusehen.
Talmadge X war ein drahtiger, impulsiver Mann um die fünfzig, der kein Gramm Fett auf den Rippen hatte. Auf seinem faltigen und frühzeitig gealterten Gesicht zeichnete sich nicht der Anflug eines Lächelns ab. Der verletzliche Blick seiner großen Augen ließ vermuten, dass er jahrzehntelang auf der Straße gelebt hatte. Seine Hautfarbe war sehr dunkel - ein augenfälliger
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