Die Schuld
Ich hatte eine Pistole und wollte jemanden erschießen. Wen, war egal. Nachdem ich das Camp verlassen hatte, bin ich losgegangen, ohne konkretes Ziel. Ich hab nur jemanden gesucht, den ich umlegen kann. Fast hätte ich einen Koreaner erschossen, der vor seinem Laden stand, aber da waren zu viele Leute. Dann hab ich Pumpkin gesehen, den ich ja kannte. Wir haben uns kurz unterhalten, und dann hab ich gesagt, ich hab Stoff dabei, wenn er was will. Wir sind in die Seitenstraße, und ich hab ihn erschossen. Keine Ahnung, warum. Ich wollte einfach jemanden töten.«
Als klar war, dass Tequilas Geschichte beendet war, fragte Clay: »Was ist das ›Camp‹?«
»Das Entziehungsheim, wo ich zuletzt gelebt hab.«
»Wie lange?«
Tequila ließ sich mit der Antwort Zeit. Als sie dann kam, war Clay überrascht. »Einhundertfünfzehn Tage.«
»Sie waren einhundertfünfzehn Tage clean?«
»Ja.«
»Und als Sie Pumpkin erschossen haben, standen Sie auch nicht unter Drogen?«
»Nein. Ich bin immer noch clean. Jetzt sind es einhundertsechzehn Tage.«
»Haben Sie vorher schon mal jemanden erschossen?«
»Nein.«
»Wo hatten Sie die Pistole her?«
»Hab ich aus der Wohnung von meinem Cousin gestohlen.«
»Wird das Entziehungsheim abgesperrt?«
»Ja.«
»Sind Sie ausgerissen?«
»Nein, ich hatte zwei Stunden Ausgang. Nach hundert Tagen kann man zwei Stunden raus.«
»Sie haben also das Camp verlassen, sind zur Wohnung Ihres Cousins gegangen, haben die Pistole geklaut, sind dann einfach so rumgelaufen, um jemanden zu finden, den Sie umbringen können, und dann sind Sie Pumpkin begegnet.«
Tequila nickte schon, als Clay noch gar nicht ausgeredet hatte.
»Genau. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung.«
Clay glaubte zu sehen, dass Tequilas gerötetes rechtes Auge etwas feucht wurde. Vielleicht empfand er Schuldgefühle oder Reue, aber Clay war sich nicht sicher. Er zog ein paar Papiere aus seiner Aktentasche und schob sie durch den Schlitz in der Plexiglasscheibe. »Unterschreiben Sie diese Formulare neben den roten Markierungen. In zwei Tagen komme ich wieder.« Tequila ignorierte die Papiere. »Was passiert jetzt mit mir?«, fragte er.
»Darüber reden wir später.«
»Wann komme ich hier raus?«
»Das könnte lange dauern.«
4
D ie Betreiber des Entziehungsheims »Deliverance Camp« sahen keinen Grund, vor Problemen in Deckung zu gehen. Folglich befand sich der Sitz dieses Hauses der »Erlösung« mitten in der urbanen Kriegszone, die jene Opfer produzierte, deren letzte Hoffnung eine rigorose Therapie war. D-Camp war keine abgelegene Entziehungsanstalt auf dem Land, keine hinter Mauern verborgene Klinik in einem wohlhabenden Viertel der Stadt. Die Patienten kamen von der Straße, wo ein Großteil von ihnen auch wieder landen würde.
Die Einrichtung lag in der W-Street im Norden Washingtons, mit Aussicht auf eine Reihe verlassener Doppelhäuser mit zugenagelten Fenstern, wo manchmal Crackdealer ihren Geschäften nachgingen. In Sichtweite befand sich ein berüchtigtes, verwaistes Grundstück, auf dem früher eine Tankstelle betrieben worden war. Hier trafen die kleinen Dealer ihre Zulieferer, und die Geschäfte wurden in aller Öffentlichkeit abgewickelt. Wollte man den inoffiziellen Angaben der Polizei Glauben schenken, dann waren auf diesem Grundstück schon mehr von Kugeln durchsiebte Leichen gefunden worden als irgendwo sonst in Washington.
Clay fuhr langsam die W-Street hinab. Die Fenster seines Autos waren geschlossen, seine Hände umklammerten krampfhaft das Lenkrad, sein Blick irrte unstet umher, und es schien ihm unvermeidlich, dass er bald Schüsse hören würde. In diesem Getto war ein Weißer für viele eine unwiderstehliche Zielscheibe. Die Tageszeit spielte dabei keine Rolle.
Das D-Camp war in einem ehemaligen Lagerhaus untergebracht, das früher in städtischem Besitz gewesen war. Irgendwann hatte die Kommune das Interesse an dem Gebäude verloren und es für ein paar Dollar an eine Non-Profit-Organisation verkauft, die mit gutem Grund in dieser Gegend reichlich Kunden vermutete. Das große Lagerhaus aus rotem Backstein hatte mittlerweile eine kastanienbraune Fassade, deren unterer Teil von den ortsansässigen Graffiti-Künstlern dekoriert worden war. Der Kasten nahm die Länge eines ganzen Häuserblocks ein. An der Straßenfront und an den beiden Außenseiten des Gebäudes waren sämtliche Türen und Fenster zubetoniert, sodass hohe Zäune mit Stacheldraht
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