Die Schuldlosen (German Edition)
Labello, bearbeitete ihre Lippen und zeterte wie ein Rohrspatz: «Was fällt dem ein? Der tickt wohl nicht richtig. Dem werde ich was erzählen.»
Von Lothars Vernunft war nicht mehr die Rede. Es blieb Alex überlassen, die Tasche wieder einzuräumen. Bei der Gelegenheit entdeckte er ein schwarzes Plastikteil, das sich beim Druck auf eine winzige Fläche mit Schlosssymbol als moderner Autoschlüssel entpuppte und Lothars Aufmerksamkeit entweder entgangen war, oder Lothar hatte gedacht, damit könne Silvie zurzeit eh nichts anstellen. Alex ließ das Ding geschickt in seiner Jacke verschwinden, Silvie brauchte es ja vorerst wirklich nicht. Die Tasche stellte er ihr griffbereit auf den Nachttisch.
Bis um halb sechs das Abendessen verteilt wurde, brachte er alles in Erfahrung, was für ihn sonst noch von Belang war, sogar dass der Kfz-Schein des Passats seit kurzem immer im Handschuhfach lag. Vorher hatte Silvie auch den Schein in der Handtasche gehabt, weil sie das Auto am meisten nutzte.
Vor Davids Geburt war sie in einem Kleinwagen zur Arbeit gefahren. Sie war als Altenpflegerin im Grevinger Seniorenheim beschäftigt gewesen und hatte ihr Auto eigentlich behalten wollen. Mit einem Baby auf dem Land, da brauchte man unbedingt eins. Aber das wäre hinausgeworfenes Geld gewesen, wo der Passat von morgens früh bis zum Nachmittag auf dem Parkplatz bei der S-Bahn stand. Also hatte Silvie die Herrschaft über die Familienkutsche übernommen und den Kfz-Schein eingesteckt.
Aber neulich hatte Lothar abends noch etwas für seine Mutter besorgen müssen und war in eine Verkehrskontrolle geraten. Zwanzig Euro hatte es ihn gekostet, angehalten zu werden und nicht belegen zu können, im eigenen Auto unterwegs zu sein. Zwanzig Euro waren für einen sparsamen Menschen wie Lothar eine Menge Geld.
Alex hätte es entschieden mehr gekostet, ohne Papiere in einem Wagen erwischt zu werden, den er ohne Wissen des Halters fuhr. Der Schlüssel hatte ihn auf eine Idee gebracht, bei deren Verwirklichung er keinen Chauffeur gebrauchen konnte.
Als Silvie die Abdeckung von einem Teller mit zwei Brotscheiben, etwas Salami und einer Schmelzkäseecke anhob und durch Naserümpfen zu verstehen gab, dass das nicht gerade nach ihrem Geschmack war, verabschiedete er sich.
Für den Heimweg nahm er wieder ein Taxi und bestellte beim Fahrer für den nächsten Morgen eins vor. Es kam wie verlangt pünktlich um fünf in der Früh und brauchte nicht mal zehn Minuten bis zur S-Bahn-Station über die um die Zeit noch völlig leere Landstraße. So war er noch vor Lothar am Ziel, sah seinen ehemaligen Freund ankommen und aussteigen, musste sich dann allerdings ein Weilchen gedulden.
Lothar kehrte wie zwei andere frühe Kunden in Heikes Kaffeebüdchen ein. Im Gegensatz zu den beiden anderen kam er jedoch nicht nach wenigen Minuten wieder raus, um zur ersten Bahn zu sprinten. Durch die Glasfront sah Alex, wie Lothar sich zwei Brötchen belegen und in eine Tüte packen ließ. Er bezahlte auch sofort. Danach ging er zum Kühlschrank für die Kaltgetränke, nahm sich ein Saftpäckchen und wechselte damit zurück an die Theke, hinter der Heike Schinkenbrötchen auf einem Tablett arrangierte. Lothar stellte das Päckchen zu seiner Tüte, machte jedoch keine Anstalten, auch den Saft zu bezahlen.
Er sagte etwas. Draußen war natürlich nichts zu verstehen. Und auf die Distanz nutzte Alex die besondere Fähigkeit nicht viel, die er sich im Knast angeeignet hatte: Zum Lippenlesen musste man näher heran. Das riskierte er nicht, wollte nicht durch einen zufälligen Blick der beiden entdeckt werden. Lieber ging er zur Rückseite der Blockhütte. Dort befand sich eine schmale Veranda mit Zugang zum Innenraum. Die Hintertür hatte im oberen Bereich eine Glasscheibe und wurde gelegentlich als Abkürzung zu Gleis 1 benutzt. Doch nachdem die erste Bahn abgefahren war, bestand für die nächsten zwanzig Minuten kaum die Gefahr, dass jemand durch diese Tür ins Freie trat.
Auch durch die kleine Glasscheibe waren Lothar und Heike im hell erleuchteten Thekenbereich gut zu sehen. Lothar stand sogar mit dem Gesicht zur Hintertür, Heike seitlich. Sie bestrich weitere Brötchenhälften mit Butter, belegte sie mit der Salatgarnitur und Käse. Und was immer Lothar ihr bis dahin erzählt hatte, in Angst und Schrecken versetzt hatte es sie anscheinend nicht. Sie wirkte nur verärgert.
Alex sah, dass sie etliche Sätze hintereinander von sich gab. Was sie sagte, war nicht zu
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