Die Schule der Nacht
erster Tag an der Ravenwood. Gott, ich beneide dich so!«
»Du beneidest mich? Mir graut davor. Diese ganzen abgehobenen Streber und Schnösel, das wird der totale Albtraum.«
»Hey, sei nicht so undankbar! Du musst keine Schuluniform tragen und darfst jede Menge neue Jungs kennenlernen, du Glückliche!«, rief Fiona, die sich anscheinend schnell wieder erholt hatte. »Hach, wenn ich an all die süßen Jungs denke, die im Unterricht neben dir sitzen, im Gang mit dir flirten und dir die Tür aufhalten werden… Das reinste Paradies.«
April lächelte. Es war unglaublich, wie ein fünfjähriger Aufenthalt an einer reinen Mädchenschule die Vorstellungskraft beflügeln konnte. Seit sie die Zusage von Ravenwood bekommen hatte, stilisierte Fiona die Schule zu einer Art romantischer Jane-Austen-Fantasiewelt hoch, wo vornehme junge Herren den Mädchen unter der Krempe ihrer Zylinder verstohlene, aber leidenschaftliche Blicke zuwarfen.
»Ganz so aufregend wird es wohl nicht werden.«
»Oh doch. Verlass dich drauf«, blieb Fiona hartnäckig. »An der Schule sind bestimmt auch lauter Adelige – richtige echte Lords!«
»Ich glaube nicht, dass…«
Aber Fiona ließ sie gar nicht ausreden. »Ich wette, die fahren alle einen Range Rover und nennen ihre Eltern Madam und Sir. Gott, du musst mich nach der Schule sofort anrufen. Ich will alles wissen!«
April wünschte, ihre Freundin würde recht behalten, aber sie glaubte nicht daran. Am liebsten hätte sie keinen Fuß in diese Schule gesetzt. Aber das Schlimmste war, dass Fionas Gerede über Jungs sie sofort wieder an Neil erinnert hatte. Sie hatte absolut keine Lust, irgendwelche neuen Jungs kennenzulernen, die dann auch wieder mit der erstbesten heißen Blondine davonzogen, die ihnen schöne Augen machte.
Fiona spürte sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte.
»Wegen Neil und Miranda musst du dir jedenfalls keine Sorgen machen…«
»Neil?«, fragte April. »Wieso? Was ist passiert?«
»Du wirst es nicht glauben, er… zzzzkrrrrr… gesagt, dass zzzkkkkkck… Miranda… kkkkkzzzrrr…«
Ihre Stimme ging in statischem Rauschen unter. »Fee? Wer hat was über Miranda gesagt?«
Stille. April schaute auf das Display ihres Handys. Kein Netz! Wie konnte das sein? Dabei war sie doch höchstens drei Kilometer von der Londoner Stadtmitte entfernt.
»Hallo? Kannst du mich noch hören? Fee?«
»Ich versteh dich kaum noch. Die Verbindung bricht zusammen«, rief Fiona. »Ruf mich an. Ich bin so gegen…«
Ihre letzten Worte wurden wieder vom Rauschen verschluckt. Verdammt, verdammt, verdammt. April warf einen frustrierten Blick auf ihr Handy und sah dann die Straße entlang. »Ich breche auch gleich zusammen«, seufzte sie und ging den Hügel hinunter.
Allerdings fiel es ihr schwer, ihre schlechte Laune aufrechtzuerhalten, als sie im Licht des strahlenden Oktobermorgens auf den Heath-Park zusteuerte. Unter den die Straße säumenden Bäumen, deren Zweige anmutig herabhingen, leuchteten herbstlich rot und golden gefärbte Blätter, und April musste widerwillig zugeben, dass Hampstead ziemlich hübsch war – die hohen Backsteinhäuser mit ihren gepflegten Vorgärten, der Blick auf die Skyline Londons in der Ferne und das Grün, das in satte Rost- und Rottöne getaucht war. In Schottland gab es eigentlich gar keinen Herbst. Sie und Fiona hatten oft Witze darüber gemacht, dass es in Edinburgh im Grunde nur eine Jahreszeit gab: Winter. Natürlich schien im Juli und August ein paar Wochen lang schwach die Sonne, aber dann setzten sofort wieder heftige Schauer und ein fieser kalter Wind ein, der einem die Regentropfen ins Gesicht trieb. April blickte zweifelnd an ihrem Mantel herunter – er war zwar cool, aber aus einem dicken Wollstoff. So wie eigentlich alles in ihrem Kleiderschrank. Das war die einzige Möglichkeit, in Schottland nicht zu erfrieren. Insgeheim gefiel es ihr aber auch, sich in Schals und dicke Pullis zu hüllen, in denen sie ihren Körper verstecken konnte, den sie viel zu mager und knabenhaft fand – er war Welten von Miranda Coopers sexy Kurven entfernt. Heute wollte sie noch weniger als sonst, dass irgendjemand sie genauer anschaute. Trotzdem war sie früher als eigentlich nötig aufgestanden, um sich in Ruhe überlegen zu können, was sie an ihrem ersten Schultag ohne Uniform anziehen sollte. Sie hatte wochenlang mit Fee darüber diskutiert, aber es war einfach unmöglich gewesen vorherzusagen, welcher Look an der Ravenwood angesagt war, obwohl die
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