Die Schule der Nacht
jemanden zu fragen, also tippte sie einem Mädchen, das gerade an ihr vorbeiging, auf die Schulter. Als sie den Mantel berührte, zuckte sie zurück. Pelz – echter Pelz! Das Mädchen wirbelte so schnell zu ihr herum, dass ihre seidig glänzenden blonden Haare über die Schultern schwangen. Sie hatte unglaublich fein geschnittene Gesichtszüge – wie eine russische Zarin –, weit auseinanderliegende eisblaue Augen, zarte Alabasterhaut und einen kühlen, hochmütigen Ausdruck, der perfekt zu ihrer schneeköniginnenartigen Schönheit passte. April öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber vor lauter Aufregung keinen Ton heraus. Das Mädchen musterte sie irritiert, dann strich sie den Ärmel ihres seidenweich schimmernden schwarzen Pelzmantels glatt, drehte sich um und ging weiter.
April hörte ein Kichern hinter sich.
»Gott behüte – sie hat es gewagt, das schwarze Kaninchen zu berühren!«
Als April sich umdrehte, sah sie ein Mädchen, das nicht sonderlich groß war, die Haare zu einem dunklen Bob geschnitten trug und ein spöttisches Grinsen im Gesicht hatte.
»Du siehst ziemlich verloren aus.«
»Das bin ich auch.« April errötete. Sie blickte der Pelz tragenden Schülerin nach, die gerade durch eine Flügeltür am Ende des Flurs verschwand. »War das wirklich schwarzes Kaninchenfell?«, fragte sie flüsternd.
»Ekelhaft, oder?«, antwortete das Mädchen. »Letztes Jahr war es ein weißer Nerz. Sie ist die einzige Schülerin, die in der Schule Pelz tragen darf. Weiß der Himmel, warum. Obwohl es natürlich etwas damit zu tun haben könnte, dass Davinas Vater praktisch der reichste Mann Londons ist. Ich nehme an, für so jemanden gelten die normalen Regeln hier nicht. Ich bin übrigens Caro Jackson. Und wer bist du?«
»April. April Dunne.«
Ihre Aufmerksamkeit wurde kurz von einem indisch aussehenden Schüler abgelenkt, der gerade durch den Eingang trat, einen akkurat gebügelten Designeranzug trug und aussah wie ein junger Maharadscha.
»Und was ist dein Fachgebiet?«
April ließ ihren Blick zu Caro zurückwandern. »Fachgebiet?«
»Deine Begabung.« Caro grinste. »Was hat dich hierher verschlagen? Mathe, Physik, Telekinese – was ist deine Spezialität ? Du weißt ja sicher, dass Ravenwood eine Schule für junge Genies ist.«
Ihre letzten Worte trieften vor Sarkasmus. April musterte Caro eingehender. Von all den Leuten, die sie bis jetzt hier gesehen hatte, war sie die Einzige, die halbwegs normal aussah – weder wie einer der Musterschüler, die wahrscheinlich schon zum Frühstück abstrakte Algebra-Gleichungen lösten, noch wie die zukünftigen Topmodels, die vermutlich während der Ferien über Laufstege stolzierten. Ihr Pulli war schon ein bisschen ausgeleiert, und ihre Fingernägel waren schwarz lackiert – was, wie April wusste, strikt gegen die Schulordnung verstieß.
»Da muss ich leider passen – ich hab kein Spezialgebiet. Ich glaube, mein Vater hat seine Verbindungen spielen lassen, um mich hier einzuschleusen. An meinen Noten kann es jedenfalls nicht gelegen haben.« Sie zuckte mit den Achseln. Eigentlich war sie mit ihrem Durchschnitt von 1,7 ganz zufrieden, aber die Superhirne hier würden sich wahrscheinlich darüber totlachen. »In welcher Klasse bist du?«
»In der Zwölften. Bei Miss Holden.« Caro holte einen Apfel aus ihrer Tasche und biss herzhaft hinein.
»Cool! Ich auch!« April lächelte erleichtert. »Ich muss mich in Raum sechsunddreißig melden – kannst du mir sagen, wo ich den finde?«
»Klar«, meinte Caro. »Ich bin schon mit dreizehn hier eingeschult worden. Komm mit, wir müssen durch die Cafeteria.«
April folgte Caro gehorsam den Flur entlang. Aus der Ferne hallte ihnen Lärm entgegen, der immer lauter wurde, bis Caro eine Doppeltür aufdrückte, die in ein glasüberdachtes Atrium führte. Es war ein eindrucksvoller hoher Raum, der mit lachenden und wild durcheinanderredenden Schülern gefüllt war und eine ohrenbetäubende Akustik hatte. April versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen: Entlang einer der mahagonivertäfelten Wände waren mehrere Getränkeautomaten aufgestellt, an einer anderen stand ein langer antiker Tisch, an dem ein paar Schüler saßen und Backgammon spielten. Scharen von Jugendlichen, die allesamt aussahen wie Models, saßen entspannt auf schwarzen Ledersofas, während jüngere Schüler an ihnen vorbeihasteten, als hätten sie dort nichts verloren.
»Unfassbar, dass es tatsächlich Leute gibt, die vor dem
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