Die Schule der Nacht
Vordereingang der Kirche in die kleine Kammer.
»Sie sind hier.«
»Nicht«, sagte sie und umklammerte seine Faust. »Du bist nicht wie sie. Versprich mir, dass du stark bleiben wirst.«
Er nickte traurig. »Ich verspreche es. Nur derjenige, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin – er wird dafür bezahlen.«
»Dann wirst du frei sein?«
»Ja, mein Herz. Und wir werden für immer vereint sein.«
Auf einmal wurde sie von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.
»Sei unbesorgt, unsere Liebe wird fortdauern«, stieß sie keuchend hervor. »Ich werde wieder bei dir sein.«
Ihr Brustkorb zuckte nach oben, einmal, zweimal, dann versteiften sich ihre Glieder. Ihre Lider zitterten, und ihre Lippen öffneten sich.
»Ich liebe dich«, hauchte sie, bevor ihre Augen sich für immer schlossen.
»Neeeiiin!« Er riss ihren leblosen Körper an sich, presste ihren Kopf an seine Brust. » NEIN !«
Einen Augenblick lang verharrte er so, weinte in ihr Haar, dann stand er langsam auf. Von draußen drangen dumpfe Schläge und erneut das Geräusch von splitterndem Holz zu ihm. Mit einem letzten Blick auf die Pritsche warf er seinen Umhang ab und öffnete die Tür.
Teil eins
Erstes Kapitel
Nordlondon, heute
D er Fuchs war das Erste, was sie sah. Als sie durch den strömenden Regen, der auf die Windschutzscheibe prasselte, zum Kirchturm hinaufspähte, bemerkte sie die kupferne Wetterfahne, die sich im Wind drehte. Obwohl der Turm bestimmt dreißig Meter hoch war, bildete April sich ein, das rostige Quietschen zu hören, während das Tier unaufhörlich im Kreis herumwirbelte, als würde es seinem eigenen Schwanz nachjagen.
»Wie kommt jemand bloß auf die Idee, einen Fuchs als Wetterfahne auf eine Kirchturmspitze zu setzen?«, brummte sie. »Besonders religiös ist das ja nicht.«
»Hmmm? Was hast du gesagt, Schatz?« Ihr Vater blickte kurz von der nassen Fahrbahn auf und sah sie im Rückspiegel fragend an.
»Nicht so wichtig.« Seufzend knabberte sie am Nagel ihres Zeigefingers, der an der Seite leicht eingerissen war. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war einer der »faszinierenden« Vorträge ihres Vaters über die Geschichte englischer Sakralbauten. Nein, das stimmte nicht ganz: Das Letzte, worauf sie Lust hatte, war in diesem winzigen Auto eingequetscht sitzen zu müssen, das sich gerade achthundert Kilometer von zu Hause entfernt den Hügel hinaufkämpfte. Und angesichts der angespannten Stimmung, die während der letzten Hälfte ihrer achtstündigen Fahrt von Schottland hierher zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater geherrscht hatte, hatte sie den Verdacht, dass sie da nicht die Einzige war. Als der Wagen um die Ecke bog, kam auch der Rest der Kirche in Sicht: Sie war wuchtig und grau, hatte hohe Fenster und war vor allem eins: alt . April schüttelte frustriert den Kopf. Sie war alt und langweilig, genau wie alles andere, was sie bis jetzt hier gesehen hatte.
»Bist du dir sicher, dass wir richtig sind?«, fragte ihre Mutter und wischte gereizt über das beschlagene Seitenfenster. »Sieht irgendwie mehr nach Lincoln als nach London aus.«
Ausnahmsweise war April einmal mit ihrer Mutter einer Meinung. Sie warf der elegant gekleideten Frau mit den weizenblonden Haaren und den hohen Wangenknochen, die auf dem Beifahrersitz saß, einen kurzen Blick zu. Wo sind meine Wangenknochen? , fragte sie sich unglücklich und betrachtete ihr von stumpfbraunen Haaren umrahmtes Gesicht, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. »Die bilden sich schon noch heraus«, sagte ihre Mutter immer, »außerdem bist du sehr hübsch, so wie du bist.« Erzähl das mal den ganzen Jungs, die sich nicht für mich interessieren.
Während sie im Schritttempo durch die Hauptstraße des Orts fuhren, presste April die Nase gegen die Scheibe und betrachtete die altmodische Apotheke im Fünfzigerjahrestil, die verstaubte Auslage des Juweliergeschäfts und die gebeugt gehenden Rentner – leben hier etwa nur Rentner? –, die sich gegen den Wind ankämpfend nach Hause schleppten oder wohin auch immer alte Leute an einem Sonntagabend unterwegs waren.
»Ich finde, es sieht… trostlos aus«, sagte April.
»Keine Sorge, es regnet ja nicht ständig.« Ihr Vater warf ihr im Rückspiegel ein aufmunterndes Lächeln zu.
»Alles halb so wild, Liebes«, sagte ihre Mutter, während sie ihre Chanel-Puderdose aufklappte und sich in dem kleinen Spiegel die Lippen nachzog. »In den Sommerferien kannst du alle deine Freunde wiedersehen. Freu dich doch
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