Die schwarze Feder
vielen Schnäuzen rot, ihre bleichen Wangen glänzten von Tränen, doch sie war so hübsch wie eh und je. Howie war immer stolz darauf gewesen, wie hübsch seine Mutter war. Er hatte sich zwar manchmal überlegt, ob ihn wohl irgendwann ein hübsches Mädchen mögen würde, aber viele Gedanken machte er sich nicht darüber, weil seine Mutter und seine Schwester schon hübsch genug waren und weil er wusste, dass sie ihn mochten. Das würde ihm wohl für sein ganzes Leben reichen. Als seine Mutter sich nun zu ihm beugte, sagte er: »Mir geht’s jetzt wieder gut.« Und es stimmte.
Im nächsten Sommer, eine Woche vor Howies dreizehntem Geburtstag, jährte sich seine Begegnung mit dem Rabenmann zum zweiten Mal. Als er morgens aufwachte, pfiff der Wind ums Dach. Er blickte aus dem Fenster und sah eine lange schwarze Feder mit grauem Kiel ans Fenster seines Zimmers tanzen. Über zehn Minuten lang beobachtete er sie, bevor der warme Juniwind sie endlich davontrug.
Das wiederholte sich Jahr für Jahr an diesem Tag, obwohl Blackwood doch längst tot war. Jedes Mal gelangte eine nachtschwarze Rabenfeder zu Howie, auf die eine oder andere Weise: Sie trudelte von einem Baum und strich ihm übers Gesicht, sie fiel aus einer Zeitung, die er zum Lesen öffnete, sie klebte mit einem alten Kaugummi an seiner Schuhsohle, sie steckte unter dem Scheibenwischer, als er nach dem Einkaufen zum Auto zurückkam, sie befand sich in seiner Jackentasche, als er darin Münzen zum Einwerfen in einen Automaten suchte … Obwohl er nach einer Weile damit rechnete, dass diese merkwürdige Erscheinung regelmäßig auftrat, durchfuhr ihn beim Anblick der Feder jedes Mal ein Schauder, ein fast krampfartiges Zittern. Allerdings dauerte dieser Zustand nie länger als ein paar Minuten.
Howie wurde erwachsen, rasierte sich die wenigen Haare ab, die er hatte, weil Glatzen inzwischen in Mode waren, und wurde Immobilienmakler. Bald führte er erfolgreich sein eigenes Büro, achtete jedoch immer sorgsam darauf, jedem Kaufinteressenten sämtliche Mängel der betreffenden Immobilie darzulegen. Die Medizin machte Fortschritte, allerdings nicht dahingehend, dass man seine Narben hätte reduzieren können. Er hatte sich jedoch an sein Aussehen gewöhnt und grübelte nicht mehr darüber. Einmal verkaufte er ein preiswertes Haus an eine hübsche Frau namens Felicity Callaway, die später selbst eine Maklerlizenz erwarb und ihre Geschäfte über sein Büro abwickelte. Er hatte mit ihr schon fast ein Jahr lang zusammengearbeitet, als sie eines Tages zu seiner Verblüffung fragte: »Sag mal, was muss man als Frau eigentlich anstellen, damit du auf die Idee kommst, mal mit einem auszugehen? Oder hast du kein Interesse?« Und als sie einige Monate später seinen Heiratsantrag annahm, tat sie dies mit folgenden Worten: »Du bist der ehrlichste Mann, den ich je kennengelernt habe. Ich habe dich nie eine Lüge sagen hören, nicht ein einziges Mal. Deshalb fühle ich mich so geborgen bei dir.«
Noch immer kam jedes Jahr die Rabenfeder, und als er und Felicity Kinder bekamen, grübelte Howie wieder mehr darüber nach. Er dachte jedoch, wenn er sich zu viele Sorgen über die Feder und deren Konsequenzen machte, würde er womöglich etwas in sein Leben holen, was er bereuen würde. Er kannte den alten Spruch: Wer den Teufel zu oft an die Wand malt, darf sich nicht wundern, wenn er plötzlich auf seiner Schwelle steht.
Kapitel 7
Howie war zweiunddreißig und Vater von drei wunderschönen Kindern, als er an einem Herbstabend in seinem Lieblingssessel saß und einen Roman las. Plötzlich empfand er ein Gefühl der Erleichterung, als wäre eine Last von ihm genommen worden, die er bisher gar nicht wahrgenommen hatte. Diese Empfindung, die keinen ersichtlichen Grund hatte, war so außergewöhnlich, dass er sein Buch unwillkürlich beiseitelegte und sofort aufstand. Weil sein Leben so lange so gut verlaufen war und weil er wusste, wie rasch Glück sich in Unglück verwandeln konnte, meinte er zunächst, bei seiner neuen Beschwingtheit handle es sich um eine Art Schwindel, der sich als erstes, harmloses Vorzeichen einer katastrophalen Entwicklung entpuppen würde – einer Entwicklung, an deren Ende ein Schlaganfall oder Herzinfarkt stand. Da er jedoch von Natur aus nicht pessimistisch war und da die Erleichterung anhielt, machte er sich auf die Suche nach Felicity. Er fand sie in der Küche und gab ihr mehr als nur einen Kuss. Nebenan stellte er fest, dass die Kinder – Mia, Leo
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