Die schwarze Feder
Druck, der auf ihm gelastet hatte, verschwunden war, fiel ihm nicht einmal auf, dass dies der Tag war, an dem sich sein Picknick mit dem Mörder zum zweiundzwanzigsten Mal jährte. Sie spielten Frisbee mit Barney, ihrem Hund, der unermüdlich in die Luft sprang, um die Scheibe zu fangen. Der Himmel war wolkenlos, auf das samtige Grün des Rasens fielen die kühlen Schatten der Bäume. Im Vergnügen des Augenblicks hatte Howie fast vergessen, dass das Leben ihn mehr als einmal verwundet hatte, und wenn jemand ihm einen Spiegel vors Gesicht gehalten hätte, so wäre er womöglich eine Sekunde lang selbst erstaunt darüber gewesen, dass er Narben hatte.
Mia klinkte sich aus dem Spiel aus, während Howie und die beiden Jungs unermüdlich waren. Mehrere Minuten vergingen, bevor er sich nach seiner Tochter umsah – und erstarrte. Sieben Jahre alt, zart und genauso hübsch wie ihre Mutter, saß Mia auf der Kante einer Holzbank, ohne wahrzunehmen, dass links hinter ihr auf der Lehne ein Rabe hockte. Seine pechschwarzen Augen waren so scharf, als wollte er Howie damit durchbohren. Wie als Antwort darauf, dass dieser ihn angstvoll betrachtete, breitete der Vogel die Flügel aus, reckte den Kopf vor und klappte den Schnabel auf und zu. Dabei machte er keinerlei Geräusch, sondern war so lautlos wie der sich unsichtbar anschleichende Tod.
In der Hand hielt Howie gerade das Frisbee, das er mit einer schnellen Bewegung schleuderte. Die Scheibe sauste an Mia vorbei und streifte den Vogel, der erschrocken aufflog, zu Mias Erstaunen und zur Freude ihrer Brüder. Barney bellte, und Howie verbeugte sich.
Als sie ihr Spiel wieder aufnahmen, blickte er kein einziges Mal zum Himmel, um sich nach diesem oder einem anderen Vogel umzusehen. Howell Dugley, der überlebt hatte, der für manche ein Held und für andere eine hässliche Missgeburt war, fürchtete sich weder vor der Dunkelheit der Nacht noch vor der Dunkelheit unter der Sonne, die uns gerade dann, wenn wir es am wenigsten erwarten, bedrängen kann.
Er wusste, dass der Vogel da oben kreiste. Zweimal kam das Tier so tief herab, dass er seinen Schatten übers Gras sausen sah. Aber er hob nie den Blick.
In jener Nacht wachte er auf, und während er so dalag, hörte er das unverkennbare Rufen eines Raben: ein hohles Brronk und ein tief tönendes Prrack , durchsetzt von klaren Glockentönen. Der Entfernung und der Richtung nach zu urteilen, hockte der Vogel auf dem Telefonkabel, das zwischen den Masten an der Straße entlanglief. Howie stand nicht aus dem Bett auf, um nachzuschauen.
Am nächsten Morgen war er als Erster unten, um Kaffee zu kochen und den Hund hinauszulassen. Auf dem Frühstückstisch in der Küche lag eine einzelne schwarze Feder. Er vergrub sie ganz unten im Mülleimer und erzählte niemandem davon.
Während der Kaffee durchlief, ging Howie in den Vorgarten, um die Zeitung vom Rasen zu holen. Etwas flog tief über seinen Kopf, nicht so tief, dass die Krallen seine Haut gestreift hätten, aber doch so, dass er den Lufthauch spürte. Dann verschwand das Etwas in der Buche, deren Blätter raschelten.
Auf dem Weg zurück ins Haus hob Howie kein einziges Mal den Blick von dem Wetterbericht in der Zeitung. Klar und sonnig.
In unserer Welt besteht immer die Möglichkeit, dass ein Tag des Feuers kommt, aber es ist nicht von Vorteil, wenn man dem Brandstifter extra eine Einladung schickt, egal, wie hartnäckig er einem zu verstehen gibt, dass er gerne eine bekäme.
ENDE
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DEAN KOONTZ
DER RABENMANN
ISBN 978-3-453-26735-0
Ab Dezember 2011 im Buchhandel erhältlich
E-Book ISBN 978-3-641-07058-8
Leseprobe
Über das Buch
Zwei Jahrzehnte ist es her, dass Alton Turner Blackwood, der Rabenmann, vier Familien brutal ermordete. Seine blutige Serie endete erst, als der vierzehnjährige Sohn der letzten Familie ihn erschoss: John Calvino. Doch nun plötzlich taucht ein Mörder auf, der die Untaten von einst exakt kopiert. John, der damals die eigene Familie nicht mehr retten konnte und seitdem schwer gezeichnet ist, ermittelt als Polizist in dem Fall. Voller Entsetzen entdeckt er, dass der Täter offensichtlich feststeht: Es ist der vierzehnjährige Sohn der Familie, der seine engsten Angehörigen grausam tötete. Als Detective hält sich John sonst nur an klare Fakten. Aber könnte dieser Junge – bislang ein braver Musterschüler – tatsächlich besessen sein? Und wenn ja: Wie
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