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Die schwarze Feder

Die schwarze Feder

Titel: Die schwarze Feder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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stand ein großer Strauß Plastikblumen, von Sonne und Regen ausgebleicht. Der Granit war mit Vogelkot beschmutzt, und das Gras rundherum gehörte geschnitten. Howie war gekommen, um zu sagen, dass es ihm leidtat und er Bleeker nicht seinem Schicksal überlassen hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass Blackwood etwas Schlimmeres vorgehabt hatte, als nur die neuen Regeln zu erklären. Das wollte er eigentlich sagen, als er auf dem Rasen vor dem Grabstein auf die Knie sank, aber vor lauter Scham und Schuldgefühlen brachte er zuerst kein Wort heraus. Schweigend kniete er so lange da, bis der Anblick der eingemeißelten Worte, des Porzellanfotos, der verblichenen Plastikblumen und der Vogelscheiße wirkte. Er wirkte wie Benzinreste in einer Verbrennung dritten Grades, lange nach dem Erlöschen der Flammen. Als Howie endlich hätte sprechen können, wollte er es nicht mehr, denn er konnte einfach nicht ertragen, welche Falschheit sich in dem ausdrückte, was er sah. Ob es nun absichtliche Täuschung oder pure Illusion war, so hatte er Bleeker nie lächeln sehen, so unschuldig nicht. Von einem ENGEL konnte nicht die Rede sein. Die Vogelscheiße, die verblichenen Plastikblumen und das ungepflegte Gras straften die Bezeichnung GELIEBTER SOHN Lügen. Hätte Howie versucht, etwas zu sagen, so hätte er nur vor Abscheu und Enttäuschung aufschreien können. Deshalb stand er auf und blieb stehen, bis sich sein Zittern gelegt und sein Herzschlag beruhigt hatte. Dann schob er das Fahrrad über den Rasen zur Straße und fuhr nach Hause.
    Als sich im nächsten Sommer, eine Woche vor seinem zwölften Geburtstag, der Tag jährte, den Howie mit dem Rabenmann auf dem Dach des alten Warenhauses verbracht hatte, bekam er einen Brief. Abgestempelt worden war er in einer Stadt, die einen halben Kontinent entfernt war. Als der Briefträger kam, war Howie allein daheim, und weil er dachte, Grandma Alice, die Mutter seiner Mutter, würde ihm eine Geburtstagskarte mit einem Geldgeschenk schicken, sah er die Post schon durch, während er noch von dem am Straßenrand stehenden Briefkasten zum Haus ging. Erstaunt entdeckte er einen weißen, länglichen Umschlag mit seinem Namen, der keinen Absender trug und eindeutig nicht von seiner Großmutter stammte. Darin war ein einzelnes Blatt Papier, aus dem eine Rabenfeder fiel, die vor Howies Füßen auf den Verandaboden segelte. Die simple Botschaft war in einer so sauberen Handschrift abgefasst, dass sie fast wie gedruckt aussah: Ich denke immer noch gern an deine leckeren Sandwiches.
    Howie riss den Brief in kleine Fetzen, die er in der Küche ganz unten im Mülleimer vergrub. Die glänzende Feder trug er in den Garten hinter dem Haus, warf sie in die Luft und beobachtete mit ernstem Blick, wie sie in Richtung des Friedhofs von St. Anthony davonsegelte.
    Seit er vor zehn Monaten an Ron Bleekers Grab gestanden hatte, wusste er, welche Buße er zu tun hatte: Für den Rest seines Lebens durfte ihm nie wieder eine Lüge über die Lippen kommen, nicht einmal in Form einer kleinen Flunkerei; er musste selbst auf die unschuldigste Täuschung verzichten, egal, wie gerechtfertigt diese auch erscheinen mochte. Sich der Wahrheit zu verpflichten war sein einziger Schutz gegen die grässlichen Folgen, die ihm zweifellos drohten, weil er einen Pakt mit Blackwood geschlossen hatte. Hätten seine Mutter oder seine Schwester die Feder und die mysteriöse Botschaft gefunden, so wäre er durch sein Versprechen gezwungen gewesen, alles zu erklären, den beiden von Blackwood zu erzählen – und ihnen dadurch ihren Seelenfrieden für immer zu rauben.

Kapitel 6
    Im darauffolgenden Herbst, am fünfundzwanzigsten Oktober, kam Alton Turner Blackwood posthum in die Medien. Howie half seiner Mutter gerade in der Küche, den Esstisch zu decken, als in dem kleinen Fernseher, der auf einem Schränkchen stand, ein Bericht kam. In einer weit entfernten Stadt hatte Blackwood im Lauf mehrerer Monate vier komplette Familien ermordet. Die Mädchen und Frauen hatte er vorher vergewaltigt, manche gefoltert und verstümmelt. Am Ende hatte das letzte verbliebene Mitglied der vierten Familie, ein vierzehnjähriger Junge namens John Calvino, das Monster mit einem Schuss ins Gesicht getötet. Ein Foto von Blackwood wurde im Fernsehen nicht gezeigt, weil es keines gab, aber dafür sah man Bilder der Opfer. Alle Mädchen erinnerten Howie an Corrine und alle Mütter an seine eigene. Das Besteck klirrte in seinen Händen, als er Gabeln,

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