Die schwarzen Juwelen 04 - Zwielicht
wurden, die den neuen Hütern als Kraftreservoir dienen konnten, da die neuen Hüter nicht so viel Macht in ihren kleineren, schwächeren Körpern ansammeln konnten. Ihre Juwelen hätten die Gefäße sein sollen, die ihre Gabe enthielten, und hätten die Trägerin in eine Seherin verwandelt, die Träume Fleisch werden lassen konnte. Doch nun …
Wusste ihre Mutter, dass sie auf dieser Insel gefangen war, dass sie hier schutzlos im Sterben lag? Spürte ihr Vater, der große Prinz der Drachen, dass ihr Wesen immer mehr verblasste? Würden sie Enttäuschung darüber empfinden, dass sie in Augenblicken der Verzweiflung, des Kummers und der Hoffnung versuchte, ihre Gabe an eine kleine goldene Spinne weiterzugeben?
Sie hätte in dem dunklen Berg bleiben sollen, der die Höhle des Prinzen und der Königin war. Sie hätte sich in einem der tiefen Hohlräume im Inneren des Berges einrollen und dem Rest ihres Volkes in den ewigen Schlaf folgen sollen. Stattdessen war sie einer Vision gefolgt, die eine Höhle voller Träume zeigte - einer Vision, die niemals Wirklichkeit werden würde.
Bald schon. Bald. Ihr Körper ließ sie im Stich. Ihre Kräfte versiegten. Bald würde sie frei sein von der Welt. Bald.
Sie schloss die goldenen Augen und gab sich ihren Träumen hin.
6
So viel Kummer ließ das Fleisch bitter schmecken, doch die Spinne blieb und grub tiefer unter den Drachenschuppen nach Fleisch, aus dem noch frisches Blut hervorquoll, das nicht bitter war. An dem Tag, als sich ihr das wagemutige Spinnenmännchen genähert und ihr signalisiert hatte, sich
mit ihr paaren zu wollen, hatte das Drachenfleisch besser geschmeckt, als habe die Paarung süßere Erinnerungen an die Oberfläche dringen lassen.
Da sie wollte, dass ihre Jungen von dem Fleisch fraßen, das aus ihr mehr als eine bloße Spinne machte, hatte sie nach einem Weg gesucht, diese Erinnerungen zu erreichen, der Träume ansichtig zu werden.
Drache hatte es sie zuvor sehen lassen. Warum zeigte Drache es ihr jetzt nicht mehr?
Verärgert kletterte sie zu dem Drachenkiefer empor, verankerte dort einen Seidenfaden und begann, ein Netz zu erschaffen. Doch während sie an dem Netz arbeitete … fühlte sie etwas. Also wob sie das Gefühl in das Netz, setzte sich über ihre Instinkte hinweg und ordnete die Fäden so an, wie es richtig war. Kummer. Schmerz. Sehnsucht. Verlangen. Hoffnung.
Als sie behutsam die Bahnen ihres Verworrenen Netzes entlangkroch, durchflutete sie ein Gefühl der Wärme. Sie hielt inne, ließ das Gefühl ganz auf sich einwirken und fügte einen dünnen Faden hinzu. Freude.
Auf einmal konnte sie die Höhlen sehen, den Ort, an den Drache ursprünglich hatte gelangen wollen, um die schönsten Träume zu träumen. Und in diesen Höhlen erblickte sie goldene Spinnen, viel größer als sie selbst, die Verworrene Netze spannen.
In ihrem Inneren erklang ein Geräusch, leise und immer schwächer.
*Du hast fleißig gelernt*, sagte Drache. *Doch höre auf meine Worte, kleine Schülerin. Ihr müsst die Netze gut beschützen, die ihr webt, um Träume Fleisch werden zu lassen. Viele Wesen werden diese Netze ehren und lieben, weil sie aus einem Zauber gewoben sind, der dem Herzen entspringt. Doch es wird andere geben, die alles daransetzen werden, diese Herzensmagie zu vernichten, bevor sie die Welt durchdringen kann. Hütet die Netze … Traumweberin.*
Der Atem von Drachen entrang sich ihrer Kehle in einem langen Seufzer … und dann herrschte wieder Stille.
7
Die goldene Spinne spann den letzten Faden des Netzes, das sich zwischen Drachenkiefer und -schulter befand. Der größte Teil ihres Nachwuchses war fortgegangen, ganz gewöhnliche Spinnen, die gewöhnliche Netze spinnen und gewöhnliche Beute fangen würden. Doch die wenigen, die anders waren, die wie sie waren, waren in der Nähe geblieben und hatten gelernt, wie man Verworrene Netze wob.
Trotz der Größe ihres Netzes hatte sie nur einen einzigen kleinen Traum eingefangen, doch diesem Traum wohnte ein tiefes Sehnen inne … und er schmeckte nach Kummer, der auf irgendeine Weise mit Drache zu tun hatte. Also zupfte sie am Faden des Sehnens und sandte es zurück in das Herz, aus dem es gekommen war.
Als es Nacht wurde, zog sie sich in die geschützteste Ecke ihres Netzes zurück - und sann über die Träumerin nach.
8
Der Tag war kaum angebrochen, als sie etwas Unsichtbares spürte, das auf derselben Ebene wie ihr Verworrenes Netz schwang. Während sie abwartete, konnte sie spüren, wie die
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