Die schweigenden Kanäle
Kind.«
»So ähnlich.«
Rudolf Cramer faßte Ilse Wagner an den Ärmel ihres Kostüms und bückte sich gleichzeitig zu den Koffern. »Avanti – gehen wir –«
Ilse stemmte die Füße fest auf den Betonboden. »Wohin denn?«
»Ins Hotel ›Excelsior‹.«
»Sie sind wohl übergeschnappt!«
»Ich wäre es, wenn ich Sie nicht ins Excelsior bringen würde.«
»Lassen Sie bitte diese dummen Reden! Was soll ich in diesem Hotel?«
»Essen, baden, schlafen, frühstücken, mich erwarten und mit mir Venedig kennenlernen – Ist das kein tolles Programm?!«
»Und sicherlich ist das ›Excelsior‹ das 1. Haus am Platze.«
»Natürlich.«
»So natürlich ist das nicht! Die Reisekosten nach Venedig bezahlte mein Chef. Ich stehe jetzt hier mit ganzen hundert Mark in der Tasche –«
»Ein Aschenputtel –«
»Ohne meinen Chef bin ich hier verloren! Die mir geschickte Fahrkarte war eine einfache Fahrt … keine Rückfahrkarte! Ich … ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll …« Ilse Wagner sah flehend zu Cramer empor. Jetzt war sie ein kleines, verzweifeltes Mädchen. Alle Sicherheit war von ihr abgefallen. »Sie wollen mir helfen, Herr Cramer –«
»Ich werde nichts anderes mehr tun –«
»Suchen Sie meinen Chef!«
Rudolf Cramer schob die Unterlippe vor und steckte die Hände in die Hosentaschen. Es war eine so hilflose Gebärde, daß sie irgendwie beruhigend auf Ilse wirkte.
»In Venedig einen Menschen suchen, ist etwa, als wolle man den Stillen Ozean nach einer Flaschenpost absuchen. Wo soll man anfangen? Beim Postamt I? Kleines Fräulein … wenn Sie Venedig kennen würden … Und überhaupt wird mir die Sache immer merkwürdiger! Warum ist dieser Dr. …«
»Dr. Peter Berwaldt …«
»… dieser Dr. Berwaldt nicht hier? Sagen Sie mal … was sind das für Mappen, Nummer 17 und 23?«
»Die Formeln des Präparates …«
»Und die haben Sie bei sich?«
»Ja – Dr. Berwaldt hat doch nur deswegen mich nach Venedig kommen lassen –«
»Kinder, Kinder … das kann ein faules Ei sein!« Rudolf Cramer sah Ilse Wagner nachdenklich an. Sein schönes, ebenmäßiges Gesicht war braun gebrannt und glänzte etwas in der Schwüle, die mit der Nacht über Venedig gekommen war. »Wo ist die Mappe?«
»Im Koffer.«
»Wir werden sie zuerst einmal in ein Bahnhofsschließfach tun.«
»Aber Dr. Berwaldt –«
»Wenn er ein logisch denkender Mann ist – und das muß er ja sein – wird er mir danken! Kommen Sie … machen Sie den Koffer auf und schließen wir die Formeln sicher weg!«
Ilse Wagner zögerte einen Augenblick. Kritisch sah sie Cramer an. Nur ein ganz kleiner Kreis Fachleute wußte, wie wertvoll und revolutionierend diese Formeln waren. Cramer nickte ihr stumm zu. Da bückte sie sich, schloß den Koffer auf; entnahm ihm eine flache Kollegmappe und reichte sie Cramer. Er schob sie unter den Arm und half Ilse, den Koffer wieder zu schließen.
»So!« sagte er. »Nun weg damit! Und dann fahren wir zum Excelsior.« Er legte Ilse beruhigend die Hand auf die Schulter, als sie etwas sagen wollte. »Bitte, keinen Protest! Wir müssen jetzt ganz klar denken. Das ›Excelsior‹ ist das Domizil der sogenannten ›großen Welt‹. Man bekommt dort ein Steak für 10 Mark, das woanders 3 Mark kostet … und auch nicht besser ist. Aber es ist möglich, daß wir dort etwas über Ihren Dr. Berwaldt erfahren. Vielleicht wohnt er sogar dort.«
»Dann wüßte ich es doch!«
»Das ist wirklich alles sehr, sehr verworren!« Cramer hob die Koffer auf, klemmte den Schirm unter den anderen Arm und nickte zum Ausgang hin. »Dort sind die Schließfächer. Und wenn sich Ihr Dr. Berwaldt morgen früh auch polizeilich nicht feststellen läßt, geben wir in alle Zeitungen eine Suchanzeige. Hübsche, verlassene Sekretärin sucht ihren Chef … es wird ein Rennen geben –«
»Lassen Sie doch bitte die dummen Witze …«, sagte Ilse fast weinerlich. »Wenn Sie wüßten, wie mir zumute ist –«
»Wir wollen zuerst einmal gut essen, gut trinken und dann gut schlafen. Morgen früh sieht Venedig wirklich wie ein Zauberreich aus … auch für Sie! Und Ihren Dr. Berwaldt kriegen wir … und wenn ich vierzehn Tage lang alle venezianischen Straßensänger in allen Kanälen seinen Namen singen lasse –«
»Halten Sie ein!« Ilse Wagner versuchte zu lachen. Aber es war ein klägliches, gequältes Lachen. »Mit hundert Mark in der Tasche –«
Rudolf Cramer stellte die Koffer wieder auf den Betonboden des Bahnsteiges. Sein
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