Die schweigenden Kanäle
noch etwas anderes entdeckten Dr. Berwaldt und seine wie in einem Freudentaumel lebenden Mitarbeiter. Etwas Erschreckendes, etwas Grauenhaftes: Das neue Mittel war bei stärkeren Dosierungen absolut tödlich. Verdampfte man gar die Originallösung, so trat ein augenblicklicher Tod durch Lähmung des Nervensystems ein. Dr. Berwaldt beobachtete es mit 100 Ratten, die er in einen Nebel seines verdampften Präparates laufen ließ. Sie rannten in den luftdichten gläsernen Kasten, blieben stehen, als habe man sie vor den Kopf geschlagen, und fielen leblos um, ohne noch einmal zu zucken.
Dr. Berwaldt starrte ernst in den gläsernen Kasten.
»Das … das ist grauenvoller als die größte Atombombe …«, sagte er leise. »Mit zehn Gramm kann man ganze Provinzen entvölkern …«
Keiner um ihn herum gab eine Antwort. Sie alle spürten, daß hier, in einem unbekannten Laboratorium in Berlin-Dahlem, Tod und Untergang der Menschheit in einem kleinen, gläsernen Käfig demonstriert wurden.
Wenig später erschien der erste Aufsatz Dr. Berwaldts in einem Fachblatt. Er nannte ihn schlicht: ›Versuch über die Stabilisierung und Verminderung des carcinomatösen Zellwachstums‹. Einige Tabellen waren dafür gezeichnet worden, einige Fotos gemacht. Und ein kleiner Satz am Ende des Aufsatzes wies darauf hin, wie giftig das neue, noch in den Kinderschuhen der Erforschung und Erprobung steckende Präparat sein konnte.
Die Fachwelt nahm kaum Notiz von dieser Veröffentlichung. Alles, was mit Krebsforschung zusammenhängt und außerhalb der großen, anerkannten Labors und Kliniken entdeckt wird, betrachtete man mit Vorsicht, Mißtrauen und sogar wissenschaftlicher Abneigung. Der Glauben an eine Sternstunde der Menschheit war im bisher aussichtslosen Kampf gegen den Krebs verloren gegangen. Die Forschungen eines Außenseiters lockten daher nicht mehr hervor als ein mitleidiges Lächeln.
Nur ein Brief traf bei Dr. Berwaldt ein. Ilse Wagner öffnete ihn, wie sie alle Post öffnete und nach dem Wichtigkeitsgrad sortierte, ehe sie die Briefe Dr. Berwaldt vorlegte oder – bei weniger wichtigen Schreiben – von sich aus beantwortete. Diesen Brief aber legte sie zuoberst. Er kam aus Venedig und war unterzeichnet von einem Sergio Cravelli. Er lautete:
»Wir lasen mit größtem Interesse Ihre Ausführungen über das von Ihnen entwickelte neue Anticarcinom-Präparat. Ich vertrete die Interessen eines der größten chemisch-pharmazeutischen Konzerne der Welt, der eine Zweigstelle in Italien unterhält. Wir wären an einer Weiterentwicklung Ihrer wegweisenden Ideen sehr interessiert und bitten Sie um eine Kontaktaufnahme mit uns.
Wir schlagen Ihnen vor, daß sich unsere Herren von der medizinisch-wissenschaftlichen Abteilung mit Ihnen in Venedig treffen, wo wir – dessen bin ich sicher – den Rahmen für eine enge und der Menschheit fruchtbringende Zusammenarbeit abstecken können. Erwähnen darf ich noch im Namen der Generaldirektion, daß wir Ihnen alle Forschungsmöglichkeiten bieten können, unabhängig von allen Kosten, die damit verbunden sind –«
Dr. Berwaldt las den Brief mehrmals lange und genau durch.
Dann rief er die in dem Brief angegebene venezianische Telefonnummer an und unterhielt sich eine Viertelstunde lang. Ilse Wagner war dabei nicht zugegen … sie schrieb die endgültigen Formeln und Zusammensetzungen ab, die Dr. Berwaldt errechnet und ermittelt hatte. Auch den Namen Cravelli vergaß sie wieder. Ein Name mit ›i‹ am Ende, das war alles, was sie behielt.
»Ich fahre nach Venedig«, sagte Dr. Berwaldt einen Tag später. »Es kann sein, daß ich Sie dort brauche, Wagnerchen. Halten Sie sich bereit.« Er zögerte beim Hinausgehen aus dem Büro und drehte sich an der Tür noch einmal um. Sein Gesicht war ernst und nachdenklich. »Noch eins: Ein großer internationaler Konzern will unser Präparat aufkaufen und entwickeln.«
»Gratuliere, Herr Doktor«, sagte Ilse fröhlich.
Dr. Berwaldt blieb ernst. »Das kommt mir alles etwas plötzlich. Zu impulsiv für einen großen Konzern! Sie machen Angebote und kennen gar nichts! Das macht mich nachdenklich. Behalten Sie gut, Wagnerchen: Wenn ich Ihnen aus Venedig schreibe oder Sie anrufe, und Sie bitte, zu kommen und die Mappen 17 und 23 mitzubringen, dann kommen Sie sofort nach Venedig und bringen zwei Mappen mit leeren Blättern mit!«
»Mit leeren –«
»Ja. Ich kann Ihnen das jetzt noch nicht erklären. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Vergessen Sie nicht: Mappe 17
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