Die Schwester
weggehen, kann ich es sagen.«
Doch auch das sprach er in diesem gähnenden Ton aus; und nur das in
musikalischen Nuancen geübte Ohr hörte aus diesem zynisch-spöttischen Scherzen
heraus, dass er eigentlich von etwas anderem sprach, nicht davon, dass ich ihm
Geld geben solle. Ich wurde aufmerksam. Er besuchte mich sonst nicht in der
Nacht, er war faul und selbstsüchtig, nach Mitternacht stand er nur der
Sterbenden wegen auf.
Was wollte dieser Mann jetzt mitten in der Nacht in meinem Zimmer?
Aber noch lange gähnte er nur, kratzte sich und rauchte. Ich setzte
mich im Bett auf, als erwachte ich. Dieser Mann, der immer in so einem
zigeunerhaften, beinahe kaffeehausartigen Tonfall zu mir gesprochen hatte, war
mir nicht gleichgültig. Ich hätte nicht sagen können, was es war, das ich von
ihm erwartete. Aber er war mir nicht gleichgültig.
Einfach, ohne Ankündigung, fragte ich: »Haben Sie vorhin im Büro
Bescheid gesagt, dass das Gespräch getrennt werden soll?«
»Ja.« Er blinzelte.
»Warum?«
»Weil dieses Gespräch Ihnen schadet.«
»Gespräche? Oder dieses Gespräch?«
»Dieses, genau dieses.« Er nickte bestätigend, als lobte er mich für
meine schnelle Auffassungsgabe.
»Woher wissen Sie �«, fragte ich erregt.
Er fiel mir ins Wort: »Finden Sie sich damit ab, Maestro, dass ich
Arzt bin und also etwas über den Kranken wissen muss, mit dem ich die Krisis
erlebt habe. Ich kenne die Person nicht, mit der Sie gesprochen haben. Sie sind
geheilt. Oder sagen wir vielleicht: Es fehlt nicht mehr viel zu Ihrer Heilung.
Aber gehen Sie nicht zu dieser Frau zurück.« Beinahe unverschämt, gleichgültig
und derb sagte er »diese Frau«, sagte es, und ich konnte nicht auf ihn wütend
sein. Er hatte eine sonderbare Fähigkeit, unvermittelt vom Wesentlichen zu
sprechen.
Ich nahm diesen Ton auf. »Warum soll ich nicht zu ihr zurückgehen?«,
fragte ich ohne Erregung, ernst und interessiert.
»Zum einen«, er hob den nikotinfleckigen Finger in die Höhe, »weil
man niemals zu dem zurückgehen darf, von dem man einmal endgültig weggegangen
ist. Das ist eine Lebensregel. Es gibt sehr wenige Lebensregeln. Dies ist eine.
Eine solche Rückkehr ist lebensgefährlich. Sie haben diese Frau verlassen und
all das abgeworfen, was an krankhaften Auswüchsen auf dieser Verbindung
aufgebaut hat. Jetzt sind Sie in einem Zustand, welcher der Heilung ähnelt, und
können in die Welt zurückgehen. Aber warum wollen Sie in die Krankheit
zurückgehen? Was erhoffen Sie sich dort? Das ist widersinnig.« Er warf die
Zigarette fort.
Ich stützte mich auf dem Kissen hoch und sah den struppigen Mann
betroffen an.
»Was reden Sie, mein Herr?«, fragte ich im Gesellschaftston, sehr
von oben herab; so sehr mir eben meine liegende Position, die Position des
Kranken, gestattete, von oben herab mit dem Arzt zu sprechen.
»Bitte«, sagte er ruhig. »Wenn Sie wünschen, können wir uns auch
über Kammermusik unterhalten.«
All das klang unverschämt, aufdringlich, anbiedernd, und doch
empfand ich es nicht als solches. Ich empfand es einfach nur als wesentlich.
Ich bemühte mich, bei dem gesellschaftlichen, abweisenden Tonfall zu bleiben.
So fragte ich: »Was können Sie über die Person wissen, die Sie als âºdiese Frauâ¹
bezeichnet haben?«
»Genau so viel, wie ich als Ihr behandelnder Arzt wissen muss«,
sagte er bereitwillig. »Ich wiederhole: Wenn Sie wollen, kann ich auch gehen.
Oder wir unterhalten uns über gleichgültige Fragen. Zum Beispiel über den
Krieg. Oder über die Zukunft Europas. Verzeihen Sie diesen billigen Scherz«,
sagte er mit plötzlicher Wärme in der Stimme, unmittelbar. Dabei beugte er sich
vor und sah mir aufmerksam in die Augen. »Diese weibliche Stimme hat in den
vergangenen Wochen oft nach Ihnen verlangt. Manchmal habe ich mit ihr
gesprochen. Es kam vor, dass ich längere Zeit mit ihr sprach, weil sie alles
über Sie wissen wollte. Wir haben uns kennengelernt, am Telefon. Ich weiÃ, wer
sie ist. Aber das geht mich letztlich gar nichts an. Was mich etwas angeht und
den Professor und diese Einrichtung, ist, dass wir Sie geheilt entlassen. Soll
ich jetzt sagen, dass wir eine groÃe Verantwortung tragen? Sie sind nicht nur
eine Privatperson! Aber im Ernst, Maestro. Protestieren Sie nicht, das wäre
kleinlich und
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