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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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Menschenlebens
mitten in den verrohten Kämpfen, in denen mit modernen Maschinen Hunderttausende
niedergemetzelt wurden, in den Seelen menschliche Gefühle weckte! Der Professor
hatte recht gehabt, dieser begeisterte Papierstapel des Mitgefühls berührte
mich. Und in einem offiziellen Umschlag vom Krankenhaus, extra sortiert – als
hätte eine taktvolle und aufmerksame Hand diese Briefe davor bewahrt, mit
fremden Handschriften vermischt zu werden –, fand ich die Briefe von E.
    Die Briefe; und auf einer pedantisch-gewissenhaften Liste die
sorgsamen Aufzeichnungen über die Telefonanrufe aus der Botschaft von X. Zuerst
hatte sie mich in der Nacht nach dem Konzert angerufen – langsam tastete sich
mein Bewusstsein in die Zeit zurück, ordnete Tage und Daten –, gegen
Mitternacht, zu der Stunde, zu der E. mich immer anrief, zu Hause, immer, wenn
sie nach Hause kam. Nach dem Konzert, in der Nacht, musste sie versucht haben,
mich im Hotel zu erreichen, und von dort hatte die aufmerksame Zentrale von
Florenz den Anruf aus dem Ausland ins Büro des Krankenhauses weitergestellt.
Und dann zwei Wochen lang täglich, mit mechanischem und dennoch hartnäckigem
Interesse, dem Zeugnis der wortkargen Aufzeichnung zufolge: Botschaft
von X. erkundigt sich nach dem Zustand des Patienten. Dies waren die
beiden Wochen, in denen ich nächtelang mit dem chinesischen Henker geplaudert
hatte; in diesen Wochen hatten wir uns erst kennengelernt. Die Nachrichten
hatte man wie die Post in dieser Zeit natürlich nicht zu mir ins Zimmer
gelassen, und als ich nun die Aufzeichnungen las, schienen langsam alle Qualen
dieser sonderbaren Zeit auf. Ich sah und spürte wieder die Tage und Nächte, in
denen ich auf den Tod zuging und alles hinter mir zurückblieb: die Musik, E.,
die Menschen, die Welt, mein früheres Leben. Dann wurden die Anrufe seltener,
Briefe kamen an, vier an der Zahl, Briefe von E., die länglichen,
elfenbeinfarbenen, vertrauten Kuverts, mit dem biegsamen, schmalen, blauen E auf der Klappe, die Kuverts, in denen ihre Hand in
drahtigen, unruhig gemalten Buchstaben früher so viele Nachrichten geschickt
hatte, nervös und auf Französisch, Englisch oder Italienisch formuliert, für
Fremde unverständlich, Nachrichten, wie ihr am Morgen beim Aufwachen etwas in
den Sinn gekommen war, ein Traumsplitter oder die wirre Skizze eines Planes für
den Tag; nicht einmal Schrift, eher nur Morsezeichen des Schreckens einer
Seele. Diese Seele war immer achtsam gewesen, schickte Botschaften, schwebte,
zwischen zwei Verlangen und der Angst, zwei Traumbildern und der Unruhe, und
gab mit hastigen Worten Nachricht, in elfenbeinfarbenen Kuverts mit blauer Zeichnung.
Was schickte sie jetzt? Ich ließ die Briefe auf meiner Decke liegen, meine
Hände ordneten zerstreut die leichten Kuverts, ich hatte es nicht eilig, die
Post zu öffnen, die in den fernen Meridianen der Krankheit hinter jeder
Zeitlichkeit zurückgeblieben waren. Ich ahnte, was sie schreiben würde; ich
kannte diese Handschrift, diese Hand und die Seele, die diese Hand bewegte und
zum Schreiben brachte. Sie wollte wissen, was mit mir geschehen war, sie
schwärmte und war erschrocken; dann wunderte sie sich; danach ermüdete sie,
wurde freundlich, gesellschaftlich, Anteil nehmend und traurig. Diese Seele
fühlte und empfand auf derselben Wellenlänge wie die meine; dieses Nervensystem
konnte im Konzertsaal einen langen Abend hindurch vollkommen allem folgen, was
in meiner Seele und in meinem Nervensystem geschah, während ich mich über das
aufgeklappte Klavier und Chopins Musik beugte; aber der schöne, edle Körper, in
dem diese Seele strahlte, war so sonderbar starr für jedes Gefühl und jede
Leidenschaft wie der Körper einer Toten.
    All das wusste ich, nun hielt ich diese leichte Last in der Hand,
E.s Briefe, und aus einer Ferne, die tiefer und dunkler war als die
geografische Entfernung, aus der Ferne der Krankheit, von der anderen Seite des
Abgrunds, kamen sie jetzt zu mir, und über meinen gepeinigten Leib strömte ein
Zittern. Das leichte Zittern, das in all den Jahren nicht vergangen war, das
sich bei jeder unserer Begegnungen eingestellt hatte, in E.s Salon oder wenn
ich sie auf der Straße sah; das Zittern, das mich darauf aufmerksam machte,
dass es vielleicht nicht »Liebe« war, was mich an sie band; vielleicht hatte
ich dieses eigenartige, fremde und edel

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