Die Schwester
verkrüppelte Wesen überhaupt nicht
»geliebt«, aber trotzdem ging sie mich etwas an, über Entfernungen, Krankheiten,
Abgründe von Leben und Tod hinweg; so, wie sie war, an der Seite eines anderen
Mannes, in einer anderen Welt, eingeschlossen in ihre verhängnisvolle und
hoffnungslose Gefühllosigkeit ⦠Ich schauderte, weil ich wieder E.s Handschrift
in Händen hielt.
Und auch dieser Schauder und dieses Zittern waren schon das Leben.
Ein vertrautes Gefühl des Lebens war dies, kalt und stromartig schlagend,
hoffnungslos und dennoch zum Leben anspornend! Lange lag ich so, reglos, die
Briefe in der Hand. Manchmal sah eine der Schwestern herein; Cherubinas
taktvolles, freundlich lächelndes, sanftes Gesicht leuchtete für einen
Augenblick in der Tür, dann das weiÃe, maskenartige Grinsen der kranken
Charissima; sie gingen weiter, als sie sahen, dass ich beschäftigt war, und
lobten mich still, weil ich mich endlich mit etwas anderem befasste als mit
Krankheit und Tod. Gegen fünf Uhr bat ich um einen heiÃen Mocca, dann riss ich
E.s Briefe auf und las sie alle auf einen Schlag. Was schrieb sie? Man schreibt
immer dasselbe. Sie schrieb, was ich erwartet hatte, und genauso, auf
Französisch, Englisch und Italienisch, wie sie lebte, träumte, wie sie zu mir
und anderen sprach, auch zu ihrem Mann, diesem weisen und geduldigen Freund.
Sie rief mich zurück und bat um Verzeihung, wofür eigentlich? Sie schrieb über
die Krankheit und auch darüber, dass sie wisse, dass auch sie ein Grund für
meine Krankheit sei; sie wisse alles über mich, die Botschaft in Rom habe
ihnen, meinen Freunden, über alle Versionen meiner Krankheit berichtet; sie wisse,
dass unser beider Beziehung die andere Krankheit war, auf die dieses
körperliche Ãbel nur aufgesetzt habe wie ein krankhaftes Gebilde auf einen
menschlichen Körperteil. Glühend schrieb sie darüber, dass sie kalt sei.
Unendlich freimütig, ehrlich und offen, hingebungsvoll schrieb sie darüber,
dass sie sich mir niemals habe öffnen und hingeben können. Mit nackter
Ehrlichkeit sprach sie davon, dass sie für mich nie habe ganz nackt sein
können. Leidenschaftlich sagte sie mir in diesen Briefen, dass sie keine
körperliche Leidenschaft kenne. Und mit bekenntnishafter Begeisterung,
stammelnd â mit dem Stammeln des ehrlichen Gefühls â, sprach sie davon, dass
dennoch, dennoch ich, früher wie jetzt, der Einzige sei, der in ihren Körper,
in ihr Nervensystem Empfindungen hineinschmuggeln konnte. Ich, genauer gesagt
die Musik, die ich durch ein Instrument in ihren Nerven zum Leben erweckte. Sie
wisse, dass diese »Beziehung« krank sei, lebensfeindlich. Aber Gesetz sei auch
dies, wie jede vollkommene Verbindung zwischen Mann und Frau, zwischen
Menschen; und sie bitte mich, dieses Gesetz zu akzeptieren, das eine andere
Zone, ein anderes Klima habe als sonst der gemeinsame Hafen von Männern und
Frauen. Und dann, im letzten Brief, schrieb sie, sie habe jetzt mit dem Krankenhaus
gesprochen â der Brief datierte von vor drei Wochen â und schlechte Nachrichten
erhalten. Sie schrieb, sie habe in der Stimme des Nachtdienstes gespürt, welch
groÃe Gefahr um ein Krankenbett im Krankenhaus einer fremden Stadt herumschlich
â mit einigen Worten charakterisierte sie dieses Gespräch, und ich glaubte
meinen eigenartigen Schamanen zu sehen, das angespannt-spöttische Grinsen des
Unterarztes, wie er in der Nacht in viele Hundert Kilometer Entfernung
Nachricht gab über eine so verdächtige und verwirrende Erscheinung, wie es für
ihn ein Kranker und die Krankheit waren â, und jetzt, jetzt wisse sie alles und
verstehe alles, sie flehe mich an, ich solle mich vom Tod abwenden, solle
zurückkommen, zu ihr, ins Leben, zur Musik, denn sie wolle nicht, dass ich
stürbe, und wenn ich glaubte, dass das helfe, solle ich gesund werden und zu
ihr kommen, denn sie biete mir ihren Körper an und gebe ihn mir.
Dies schrieb sie in entschuldigendem Ton. Es war nach sieben Uhr.
Den letzten Brief in der Hand, setzte ich mich im Bett auf, mit einer Bewegung,
als wollte ich mich erheben; dies war die Zeit der Abendvisite des Unterarztes,
und tatsächlich, nach leisem Klopfen erschien die Gestalt des gedrungenen
Freundes in der Tür, kurzsichtig sah er mich an, wie ich mit den Briefen in der
Hand und bereit zum Aufbruch aufrecht im Bett saÃ, und sagte:
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