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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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langsam um und ging auf die Tür zu. »Das Klingeln würde die Dame am
Morgen stören.«
    Sie sprach in farblosem, dumpfem Ton, aber diese Stimme berührte
mich. Unwillkürlich blickte ich auf. Sie stand aufrecht da, mit der Haltung der
Dienenden und Diensttuenden, und war dabei loszugehen. Jetzt sah ich, wie dünn
diese kranke Frau war, sogar unter der mantelartigen, weiten, formlosen
Nonnentracht schien die Dünnheit ihres gebrechlichen Körpers durch.
    Â»Die Frau?«, fragte ich erregt. »Sie meinen: die Wohnung.«
    Â»Die Frau, am Morgen«, sagte sie mit derselben kalten, ruhigen
Stimme. Und stand reglos da.
    Ihre Stimme, diese sachliche und höfliche Stimme, hatte einen
feindseligen, angreifenden Beiklang. Dieser Klang ernüchterte mich. Ich setzte
mich im Bett auf und schaltete das Licht ein. Im grellen Lichtschein
betrachtete ich die vertraute Gestalt. Jetzt war sie fremd. Eine Zeit lang –
lange Augenblicke, deren Dauer man nicht in Stunden messen konnte – sahen wir
uns starr an. Sie hielt meinem Blick stand, ohne zu zwinkern.
    Dies war der gewisse Augenblick des »Als sähe ich sie zum ersten
Mal«, wie wenn sich Personen oder Gegenstände plötzlich ganz zeigen, in einer
Situation des Lebens in außergewöhnlichem Lichteinfall ihr neues, wahres
Gesicht enthüllen. Jetzt sah ich, wie krank diese Schwester war! Ihr Gesicht
war ganz klein, wie ein zerfurchter, weißer Teller. In diesem kreidebleichen
Gesicht leuchteten zwei kalte, schwarze Augen. Diese Augen hatten nichts
Menschliches mehr; sie waren wie die Augen eines Tieres. In der schwarz-weißen
Tracht bewegte sich ein Gerippe, und im schneeweißen Rahmen der Nonnenhaube,
aus der Tiefe des maskenartigen Gesichts, leuchteten zwei schwarze Strahlen.
    Â»Die Frau?«, fragte ich mechanisch. »Was für eine Frau?«
    Â»Die Athener Frau«, antwortete sie ruhig.
    Â»Schwester, woher wissen Sie, mit wem ich telefoniere?«
    Â»Mit einer Frau«, sagte sie hartnäckig. »Alle wissen es. Das ganze
Krankenhaus.«
    Sie stand im kalten Licht wie eine alte, primitive Statue, der ein
Künstler mit groben Händen nur die Konturen geschnitzt hat. Und sie sprach so
einfach und sachlich wie immer, als spräche sie über Medikamente,
Behandlungsmethoden, ihren Dienst oder irgendeine Aufgabe. Nur ihre Stimme war
scharf, kalt und feindlich. Und die Strahlen ihrer Augen glühten, dieser
starre, brennende Blick.
    Â»Ja«, sagte ich. »Wenn es das ganze Krankenhaus weiß. Wünschen Sie
noch etwas?«
    Â»Nein«, erwiderte sie. »Möchten Sie nicht noch etwas, Maestro?«
    Wieder diese eisige, disziplinierte Stimme, aus der eine
unverständliche Leidenschaft klang. Spott, Angriff, ich weiß nicht, was.
    Â»Danke, nein«, sagte ich.
    Noch einen Augenblick sahen wir einander an. Dann wandte sie sich
langsam zur Tür um. Im Türrahmen sah ich nur noch ihren gesenkten Kopf, wie sie
sich gebeugt dahinschleppte. Ein Zwang, auf dessen Grund Mitleid lag und
Neugier, brachte mich dazu, ihr ein Wort auf den Weg zu geben, in die Nacht,
sie nicht wortlos gehen zu lassen.
    Â»Sind Sie nicht gesund, liebe Schwester?«, fragte ich.
    Sofort blieb sie stehen. Sie wandte sich um, setzte das Tablett auf
dem Tisch ab und trat an mein Bett. Die Arme über der Brust verschränkt,
versteckte sie die Hände in den weiten Ärmeln des Nonnengewandes. So stand sie
am Kopfende, zwischen Nachttisch und Seitenwand und stützte sich leicht an der
Wand ab. Sie sagte: »Ich habe Leukämie.«
    Â»Ja«, erwiderte ich mit der fachlichen Anerkennung des Mitpatienten.
»Sie werden ausgezeichnet behandelt.«
    Â»Ja«, sagte sie. »Man behandelt mich. In sechs Monaten werde ich
sterben.«
    Â»Aber nein«, antwortete ich. »Warum sagen Sie so etwas? Der Herr
Professor, die Ärzte. Sicher werden Sie gesund.«
    Â»Spätestens in sechs Monaten«, sagte sie.
    Sie sprach ohne Leidenschaft, Klage oder Affekt, als gäbe sie
Nachricht vom Schicksal eines fremden Patienten, über seine Krankenhausbefunde.
Mit dieser Stimme konnte man nicht diskutieren. In ihr lag kein noch so kleiner
Hauch von Klage oder Selbstmitleid. Diese Sachlichkeit bestürzte mich und ließ
nicht zu, dass ich mit einem Anteil nehmenden Gemeinplatz antwortete. Dieser
natürliche, mitteilsame und nüchterne Tonfall war zugleich auf eigenartige
Weise befehlend; als hätte sie

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