Die Schwestern des Lichts - 3
Schwester Ulicia auf die Ecke ihres Schreibtisches tippte.
»Das Reisebuch. Außerdem glaube ich kaum, daß dies für eine Novizin die rechte Art ist, sich zu verabschieden, nachdem sie von einer Schwester entlassen wurde. Nicht wahr, Novizin?«
Schwester Verna zerrte das kleine Buch hinter ihrem Gürtel hervor und legte es vorsichtig auf die Ecke des Schreibtisches.
»Nein, Schwester, ist es nicht.« Sie machte einen Knicks. »Vielen Dank, Schwester, daß Ihr Zeit für mich hattet.«
Leise seufzend schloß Verna die Tür hinter sich. Dann blieb sie einen Augenblick lang stehen und dachte nach.
Die Augen auf den Boden geheftet, suchte sie sich ihren Weg durch den Palast, durch offene und geschlossene Flure, aus nacktem Stein wie auch holzgetäfelte, über mit Teppichen ausgelegte Böden und solche, die gefliest waren. Also sie um eine Ecke bog, trat ihr plötzlich jemand entgegen. Sie hob den Kopf und sah in ein Gesicht, dem sie lieber nicht begegnet wäre.
Er lächelte auf altvertraute Art. »Verna! Wie schön, dich zu sehen!«
Das junge Gesicht mit dem energischen Kinn war unverändert. Er trug das wellige, braune Haar ein wenig länger, bis über die Ohren, und seine Schultern waren breiter, als sie in Erinnerung hatte. Sie mußte sich zusammenreißen, um nicht seine Wange zu berühren, ihm nicht in die Arme zu fallen.
Sie verneigte den Kopf. »Jedidiah.« Sie sah ihm in seine braunen Augen. »Du siehst gut aus. Du siehst aus … genau wie immer. Du siehst gut aus für dein Alter.«
»Du siehst … nun ja…«
»Das Wort, nachdem du suchst, heißt alt. Ich sehe alt aus.«
»Ah, Verna, ein paar Fältchen…«, er ließ den Blick an ihrem Körper hinabgleiten, »… und ein paar Pfunde können einer Schönheit wie dir doch nichts anhaben.«
»Wie ich sehe, kannst du eine Frau noch immer so umgarnen wie früher.« Sie betrachtete sein schlichtes, hellbraunes Gewand. »Und wie ich ebenfalls sehe, bist du ein guter Schüler gewesen und vorangekommen. Ich bin stolz auf dich, Jedidiah.«
Er tat das Kompliment mit einem Schulterzucken ab. »Erzähl mir von dem Neuen, den du hierhergebracht hast.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Du hast mich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen, seit ich mich von deinem Bett erhoben und auf diese Reise gegangen bin, und dies ist deine erste Frage an mich? Nicht, wie es mir ergangen ist? Nicht, was ich nach all der Zeit für dich empfinde? Nicht, ob ich einen anderen in mein Herz geschlossen habe? Nun, vermutlich hat der Schock darüber, wie sehr ich gealtert bin, dich diese Frage glatt vergessen lassen.«
Das verschlagene Lächeln auf seinen Lippen blieb. »Verna, du bist doch kein dummes, kleines Mädchen. Dir ist doch sicher klar, daß niemand von uns beiden nach so langer Zeit verlangen kann…«
»Natürlich weiß ich das! Ich habe mir, was uns betrifft, keine Illusionen gemacht. Ich hatte schlicht darauf gehofft, bei meiner Rückkehr mit ein wenig Takt und Einfühlungsvermögen behandelt zu werden.«
Er zuckte abermals mit den Achseln. »Tut mir leid, Verna. Ich hatte dich immer für eine Frau gehalten, die Verschwiegenheit zu schätzen weiß und die nichts auf Wortgefechte gibt.« Sein Blick verschwamm. »Vermutlich habe ich seit damals, als ich noch jung war, viel über … das Leben gelernt…«
Sie riß ihren wütenden Blick von seinem hübschen Gesicht los und wollte gehen. »Gute Nacht, Jedidiah.«
»Was ist mit meiner Frage?« Seine Stimme klang unangenehm scharf. Er schlug einen sanfteren Ton an. »Wie ist der Neue denn so?«
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Du warst doch dabei. Ich habe dich gesehen. Richard ist genau so, wie du ihn kennengelernt hast.«
»Ich habe auch gesehen, was dir passiert ist. Ich habe ein wenig Einfluß bei einigen der Schwestern. Vielleicht kann ich etwas tun, um dir zu helfen.« Er machte eine vage Handbewegung. »Wenn du offen zu mir bist und meine Neugier zufriedenstellst, kann ich dir vielleicht aus deiner unglücklichen Zwangslage heraushelfen.«
Sie machte sich erneut auf den Weg. »Gute Nacht, Jedidiah.«
»Ich sehe dich hier im Palast, Verna. Denk darüber nach.«
Sie konnte kaum fassen, wie dumm sie gewesen war. Sie kannte Jedidiah als fürsorglichen und aufrichtigen Menschen. Vielleicht trog ihre Erinnerung.
Vielleicht dachte sie ausschließlich an sich selbst und hatte ihm gar keine Gelegenheit gelassen, freundlicher zu sein. Sie sah bestimmt fürchterlich aus. Sie hätte sich zurechtmachen, ein
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