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Die Schwesternschaft

Die Schwesternschaft

Titel: Die Schwesternschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger R. Talbot
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Sie wunderte sich, wie selbstverständlich ihr diese Rede über die Lippen gekommen war. Daniel starrte sie mit offenem Mund an, und Caroline hatte einen hochroten Kopf. Nur Bill wirkte nicht betroffen.
    Â»Sei so gut, steig auf die Bühne und zeig uns, zu was du fähig bist«, forderte sie der Regisseur auf. »Vorausgesetzt, du bist überhaupt zu irgendetwas fähig, außer die Arbeit anderer zunichtezumachen.«
    Â»Aber Bill …«, versuchte Daniel ihn davon abzubringen.
    Der Regisseur brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
    Â»Gebt mir eine Minute«, bat Victoria.
    Dann lief sie mit kleinen Schritten auf die Treppe zu, die auf die Bühne führte. Sie drehte sich nur einmal um und sah, dass Daniel versuchte, zumindest Caroline davon zu überzeugen, es sein zu lassen. Aber auch die Produzentin schien nun die Absicht zu haben, sie auf die Probe zu stellen.
    Victoria betrat die Bühne, wo sie, im Scheinwerferlicht, einen Blick auf die Noten warf. Nicht einmal eine Minute später begann sie zu singen. Zunächst in sanfter Phrasierung, ähnlich wie der Anfang von Cabaret, gefolgt von moderneren, hektischeren Klängen. Die erste Strophe des Liedes schien förmlich aus Victoria herauszuplatzen, ohne dass sie sich dessen bewusst wurde: »If the world is small/if the word ist small/I’m sure of one thing/ one day I’ll make them bigger 6 .«
    In ihr stiegen Erinnerungen an den Unterricht mit Madame auf, eine Rhapsodie der Gefühle, die einander berührten, bevor sie sich um die Worte des Liedes schmiegten, sie in einen Zauber hüllten, der ihrer Stimme Glanz verlieh.
    Daniel betrachtete sie, aber er betrachtete auch die Noten in seiner Hand, als sähe er sie zum ersten Mal. Er dachte, dass es bis zu diesem Augenblick niemandem gelungen war, sie wirklich zu interpretieren. Auch ihm nicht. Bis Victoria angefangen hatte zu singen, war er wie blind gewesen. Er stellte sich die geschmeidigen Bewegungen vor, die das Tanzcorps rings um diese junge Frau mit der übernatürlichen Ausstrahlung vollführte. Die gesamte Choreografie musste von Grund auf neu überdacht werden. Wie hatte er nur so dumm sein können? Alles war so offenkundig, ganz einfach und zum Greifen nahe. Die bisher geleistete Arbeit war für die Katz. Aber bei einer derartigen Inspiration war es die Mühe wert.
    Caroline lächelte und schaute nach oben, als danke sie Gott. Sie dankte tatsächlich ihrem guten Stern, der sie eine echte Goldgrube hatte entdecken lassen.
    Bill war von allen am aufgeregtesten. Aus Victorias Stimme sprach Leid, aber keine Klage. Es war keine Engelsstimme. Nichts derart Androgynes: Es war ganz einfach die Stimme einer jungen Frau, die die Verzweiflung hinter sich ließ und dem Elend den Rücken kehrte, nachdem sie aus beidem Kraft geschöpft hatte. Wenn er jünger gewesen wäre, hätte er sie geküsst. Aber ein alter Kerl wie er konnte sich nur noch nach einer Liebe verzehren, von der er ein Leben lang geträumt hatte. Eine Träne rollte ihm über die Wange.
    Als die Musik verstummte, wurde auf der Galerie ein Vorhang angehoben, und Iv erschien. Sie stand schon eine ganze Weile dort und beobachtete ihre Schülerin voller Stolz. Sie hatte keinen Augenblick an Victorias Talent gezweifelt. Nun musste sie möglichst rasch von zu Hause fortgehen, um die wahre Einsamkeit kennenzulernen und schließlich die nächste Stufe zu erklimmen: Sie musste alles erreichen, um es erneut zu verlieren.
    Iv warf einen letzten Blick auf die Bühne. Die Musik war verklungen. Sie sah, dass ihr alter Freund Bill auf die Bühne gestiegen war, um Victoria zu umarmen. Caroline war aufgestanden und klatschte begeistert Beifall, Daniel tanzte vor Freude.
    Ihr Handy vibrierte. Iv ließ den Vorhang sinken und sah nach, wer diesen von wahrem Zauber erfüllten Augenblick störte.
    Die Nachricht stammte von Raye: HANDY DER DERZHAVIN UNTERSUCHT. ORT GEFUNDEN. WERDE EINGREIFEN.
    6 Ist die Welt auch klein/ist das Wort auch klein/ So weiß ich eines doch gewiss/ eines Tages mach ich sie groß.

66
    Dublin, National Botanic Gardens
Dienstag, 4. Januar, 9.37 Uhr
    Die National Botanic Gardens waren eine Perle inmitten der Stadt: knapp zwanzig Hektar nahezu unberührte Natur, seit über zweihundert Jahren von den besten Gärtnern Irlands gepflegt. Täglich kamen Tausende von Touristen, und ständig zog es bekannte Botaniker an diesen

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