Die Schwesternschaft
Kirill?«
»Ich bin hier bei ihm, im Krankenhaus.«
»Wie steht es um ihn?«
»Er hat es geschafft. Er wird wieder gesund werden.«
Es entstand eine Pause, dann begann Gavril erneut: »Sobald er in der Lage ist, ein Flugzeug zu besteigen, möchte ich, dass er herkommt, hierher zu mir. Sag ihm das.«
»In Ordnung, Papa.«
Nadja wiederholte den Satz für Kirill, der nur die Augenlider bewegte.
»Noch etwas«, fügte Gavril hinzu.
»Ja?«
»Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«
»Wir sehen uns bald, Papa. Aber jetzt muss ich Schluss machen.«
Nadja packte ihr Handy in die Tasche und trat dann ans Fenster. An diesem Morgen lag die Stadt wie eine weiÃe Ebene da. Sie lieà sich vom Anblick der schneebedeckten Dächer verzaubern, als wollte sie alle Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben.
Aber schon bald riss sie sich wieder los und holte das weiÃe Päckchen, das Mallorys Neugierde geweckt hatte, aus der Tasche. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, flüsterte sie Kirill zu.
Zum ersten Mal gelang es ihm, die Augen ganz zu öffnen. Er sah sie eindringlich an.
Vorsichtig öffnete Nadja das Päckchen: Es enthielt eine Art kleinen, runden Strauch, graubraun und vertrocknet. Ein verschlungenes Knäuel, zusammengerollt wie ein Igel. Sie legte es auf den Nachttisch neben das Glas.
Er versuchte, den Kopf ein wenig vom Kissen zu heben. »Was ist das?«
»Selaginella lepidophylla« , raunte sie. »Oder, wie die meisten sie nennen, Rose von Jericho.«
»Sie sieht abgestorben aus«, brachte er mühsam hervor. »Man hat dich betrogen.«
Nadja lächelte. »Das täuscht. Es ist eine Wüstenpflanze. Man nennt sie auch âºAuferstehungspflanzeâ¹, wegen ihrer Fähigkeit, jahrelang ohne Wasser zu überleben. Es genügen wenige Tropfen, damit sie sich öffnet, grün und samtweich wird.«
»Wie macht sie das?«
»Der Wüstenwind treibt sie voran, lässt sie Kilometer um Kilometer rollen, bis sie eine Pfütze, ein Rinnsal findet. Dann saugt sie das Wasser auf und wird schwer, sodass der Wind nicht mehr genügend Kraft hat, sie weiterzutreiben. Nun entfaltet sich die Rose, geht auf, bis sie aussieht wie ein grün schillernder Stern inmitten der Dünen. Für die Menschen in der Wüste ist sie ein Sinnbild der ewigen Lebenskraft und der Liebe, die diese wieder erwecken kann.«
Nadja glaubte, ein Leuchten in Kirills Augen zu erkennen.
»Und wenn es kein Wasser mehr gibt?«, fragte er und schloss die Augen, als sei er urplötzlich eingeschlafen.
Nadja beugte sich hinunter, berührte seine auf dem Laken ruhende Hand und küsste ihn auf die Lippen: »Es gibt immer Wasser.«
65
London, B.A.S.T.E.T. -Theater
Dienstag, 4. Januar, 8.56 Uhr
Für Victoria kam es überraschend. Madames Nachricht vom Vorabend war knapp, aber unmissverständlich gewesen: morgen früh um neun Uhr im Theater. Probevorspiel zum Broadway Musical. Für dich. Iv.
Victoria hatte versucht, sie anzurufen, aber Ivs Handy war ausgeschaltet.
So hatte sie sich eilig zurechtgemacht und ein Taxi genommen, keine gute Wahl, denn um diese Morgenstunde waren die StraÃen verstopft. Wütend war sie ausgestiegen und in die U-Bahn gewechselt, um den nächsten Zug in Richtung Princes Street zu nehmen.
Atemlos, aber pünktlich, erreichte sie das Theater.
Sie betrat den Saal. Die Plätze waren alle leer, bis auf drei, auf denen nebeneinander ein Schwarzer mit Vollglatze und einem weiÃen Brillengestell, eine Frau mit flieÃendem blonden Haar und ein scheinbar ungeduldig wartender alter Herr mit weiÃem Bart und einem rot-gelb gestreiften Schal saÃen.
Als sie hereinkam, erhoben sich die drei, um sich vorzustellen.
» Freut uns, dich kennenzulernen«, begrüÃte sie der Schwarze. »Ich bin Daniel Ailey, der Choreograf des Stücks. Das ist Bill Houstin, der Regisseur, und das Caroline Wudrow, die Produzentin.«
Victoria reichte allen lächelnd die Hand.
»Wir haben den Ozean überquert, um dich zu sehen«, erklärte die Frau in übertriebenem Tonfall.
»Ich fühle mich geehrt. Ich hätte ja auch kommen können«, erwiderte Victoria.
»Wenn dir Iv Lily einen Tipp gibt, ist es immer besser, vor den anderen da zu sein«, erklärte Caroline Wudrow.
Bill Houstin musterte sie ein wenig misstrauisch, als zweifelte er daran, dass sich in
Weitere Kostenlose Bücher