Die Seele der Nacht
»Tarî-Grôth!«, rief sie mit gedämpfter Stimme aus.
Der Pfad vor ihnen stieg nun steil an und wand sich an einem felsigen Hügel empor. Das Gras an seinen Hängen war verdorrt, die Skelette einiger Bäume reckten ihre Geisterfinger dem Nachthimmel entgegen. Dreimal überquerte der Weg in engen Serpentinen den Abhang und endete schließlich vor einem von zwei Rundtürmen bewachten Tor. Ein Fallgitter verwehrte den Zugang zur Feste. Zu beiden Seiten der Wachtürme zogen sich mächtige Mauern um den Hügel. Wie Augen starrten schmale Fensterschlitze über das Land. Hinter der Ringmauer erhoben sich die Dächer einiger Gebäude und in der Mitte ein uralter, trutziger Bergfried. Die beiden Monde tauchten die Festung in ein unheimliches Licht. Nichts regte sich dort oben.
»Wir haben keinerlei Deckung, wenn wir da hinaufreiten«, sagte der Erdgnom mit sorgenvoller Miene.
»Ich sehe keinen anderen Weg«, entgegnete Tahâma, »also müssen wir den nehmen, der sich uns bietet.«
»Aber wem hilft es, wenn wir seinen Mumien und Ghulen in die Arme laufen und was er sonst noch an Scheußlichkeiten um sich versammelt hat?«, widersprach Wurgluck und sah zum Himmel hinauf. »Es ist bald Mitternacht!«
»Gut so! Es wird Zeit, dass Krísodul seine Macht mit der des Lords messen kann.«
Wurgluck wollte noch etwas erwidern, als er oben auf dem Hügel eine Bewegung wahrnahm. »Zurück!«, rief er leise. »Schnell!«
Auch die Stute hatte die Schatten anscheinend bemerkt und drängte sich zwischen herabhängende Flechten. Ihre Flanken zitterten, aber sie gab keinen Laut von sich. Das Fallgitter hob sich. Gebannt sahen die Freunde auf das Burgtor, durch das sich nun eine Flut grauenhafter Wesen ergoss. Ghule und Mumien und ihre grünpelzigen Raubtiere, Wölfe und andere reißende Bestien, doch auch seltsam kriechende Wesen und drei geflügelte Echsen, die sich mit grässlichen Schreien in den Himmel schraubten. In einem dichten Knäuel wälzte sich die Schar den Hügel hinunter.
Plötzlich fühlte Tahâma wieder die Kälte in ihren Eingeweiden. »Er kommt«, flüsterte sie.
Da trat der Schattenlord unter dem Fallgitter hervor, die beiden schwarzen Wölfe an seiner Seite. Er sah sich um, und seine roten Augen schienen sich den Pfad hinabzutasten. Sein Blick folgte nicht seiner Dienerschar, die nun auf einem schmalen Pfad nach Westen strebte, sondern blieb an dem Weg hängen, der zwischen den moosbehangenen Bäumen hervortrat.
»Er kann uns unmöglich sehen«, flüsterte Wurgluck und knetete nervös seine Hände.
»Sehen vielleicht nicht, aber spüren. So wie auch ich ihn fühlen kann«, wisperte Tahâma.
Noch einige Augenblicke ruhten die roten Augen auf dem Baumskelett, hinter dessen Stamm sich die Freunde verbargen, dann warf der Lord den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus, das vielstimmig von seiner Schar beantwortet wurde. Er fiel nach vorn auf seine Hände und begann sich zu verwandeln. Einen Moment später jagte der riesenhafte rote Wolf den Hügel herunter, seine Begleiter an seinen Fersen.
Eine Weile warteten die Freunde stumm. Sie wagten nicht sich zu regen. Endlich wisperte Wurgluck: »Was machen wir jetzt?«
Tahâma schüttelte sich. Ihr war, als wache sie aus einer tiefen Betäubung auf. »Nun ist die Gelegenheit verpasst«, sagte sie zornig. »Er ist fort, und ich habe es versäumt, mich ihm entgegenzustellen.«
»Der kommt wieder«, sagte Wurgluck, »schneller, als uns lieb sein kann. Ich finde, wir sollten die Gelegenheit nutzen, uns in seiner Festung umzusehen. Falls wir uns Zutritt verschaffen können.« Er deutete auf das Fallgitter, das sich hinter dem Lord wieder geschlossen hatte.
Tahâma stimmte ihm zu und schlug ihre Fersen in die Flanken der Stute. Sie trieb das Tier so schnell wie nur möglich den kahlen Abhang hinauf. Wie starre Augen schienen die schwarzen Fensterhöhlen sie anzusehen. Endlich erreichten sie das Tor. Tahâma zügelte das Pferd und ließ sich von seinem Rücken gleiten. Dann half sie Wurgluck auf den Boden. Zu ihrer Überraschung war das Fallgitter halb geöffnet und schwebte mit seinen spitzen Eisenspießen einige Fuß über ihren Köpfen.
»Das gefällt mir nicht«, murrte der Gnom. »Ich kann die Falle geradezu riechen.«
Tahâma spähte in den dunklen Hof, der sich hinter der mehrere Schritt mächtigen Mauer des Torbogens öffnete. Sie wagte nicht, das Licht des Kristalls zu entfachen. Irgendwo in der Feste schlichen sicher Wächter umher.
»Was hältst
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