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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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Wurgluck und Tahâma stehen. Der Pfad teilte sich vor ihnen und führte zu beiden Seiten um den See herum. Wenn die Augen der Spinnenfrau Tahâma nicht irregeführt hatten, dann musste am gegenüberliegenden Ufer das Tor nach Tarî-Grôth sein. Mit klopfenden Herzen machten sie sich auf, das Wasser zu umrunden.
    »Wir sind am Ziel«, flüsterte Tahâma wenig später, als sie die andere Seeseite erreicht hatten. Sie standen vor einem großen, goldenen Bogen, der sich als fein gearbeitetes Relief von der Felswand abhob. Es war keine Tür, deren Flügel man öffnen konnte, der Bogen enthielt einen silbernen Spiegel. Tahâma konnte sich selbst, den Gnom und ihre Stute im Glas erkennen, allerdings undeutlicher als in einem gewöhnlichen Spiegel. Wallender Nebel in der Scheibe trübte seinen Glanz. Vorsichtig berührte sie die Fläche und befühlte das kalte Glas. Mussten sie den Spiegel zerstören, um durch das Tor hindurchgehen zu können?
    »Sieh, dort sind Buchstaben«, sagte Wurgluck und deutete auf die leicht erhabenen Zeichen, die den Bogen schmückten. »Es sind Wörter in Hochphantásisch.«
    Tahâma trat ein Stück zurück und ließ ihren Kristall aufleuchten. In seinem Licht waren die Zeichen leicht zu lesen:
    »Wenn der Tag zur Nacht wird und die Nebel fließen, tritt ein, Fremder, doch wisse, es gibt kein Zurück!«
    Noch einmal tastete Tahâma über das Glas, aber es gab nicht nach. »Wir müssen bis zum Abend warten«, sagte sie.
    Der Erdgnom nickte. Sie setzten sich auf die Erde, keinen Schritt von der Spiegelfläche entfernt, aßen ihre letzten Vorräte, tranken reichlich von dem frisch geschöpften Wasser und warteten. Keinen Moment ließen sie den Spiegel aus den Augen und verfolgten, wie sich die Farben in der Scheibe mit dem Lauf der Sonne änderten. Tahâmas Gewand wechselte von Hellblau über Türkis zu Saphir und verblasste mit dem späten Nachmittag zu Flieder. Nicht nur ihre Tunika, das ganze Spiegelbild schien zum Abend hin blasser zu werden. Der Nebel hinter dem Glas verdichtete sich, dann aber riss er für einen Moment lang auf, und sie erhaschten einen Blick auf kahle Bäume und einen schlammigen Weg. Rasch sprang Tahâma auf und tastete nach dem Spiegel, doch ihre Hände stießen wieder auf hartes Glas.
    »Es ist noch zu früh«, murmelte Wurgluck. Auch er beobachtete den Spiegel genau.
    Der rechte Augenblick war gekommen, als der letzte Funke der Sonne hinter dem Horizont verschwand. Der Himmel flammte rötlich auf, und plötzlich stieß Wurgluck einen Schrei aus. Auch Tahâma hatte es gesehen. Sofort waren die beiden Freunde auf den Beinen. Das Mädchen griff nach den Zügeln der Stute. Ein zweiter Nebelfetzen löste sich aus dem Bild und schwebte auf den See hinaus. Ein kühler Luftzug streifte ihre Gesichter. Beherzt schritt Tahâma auf das Tor zu und trat durch den Spiegel. Wurgluck folgte ihr.
    Sie standen in einem nebelverhangenen Wald auf dem erdigen Weg, den sie vorhin schon für einen Augenblick gesehen hatten, das Spiegeltor jedoch war verschwunden. Die Bäume reckten ihre kahlen Zweige wie knochige Finger in den Himmel. Totes Moos hing in langen Flechten herab und schwankte im Hauch des Windes. Rechts führte der Weg zu einer kleinen, halb verfallenen Hütte, links stieg er an und entschwand im Gewirr der bemoosten Bäume ihren Blicken. Das letzte Licht des Tages verabschiedete sich und ließ sich von der Nacht nach Westen treiben.
    »Sollen wir die Nacht hier verbringen? Die Hütte bietet uns ein wenig Schutz«, schlug Wurgluck vor.
    Tahâma schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Wir werden die Feste des Schattenlords noch heute Nacht aufsuchen. Jede Stunde, die er noch länger Leid und Tod bringt, ist eine Stunde zu viel.«
    Seufzend nickte der Gnom. »Na gut, dann stürzen wir uns also in die Wolfsgrube!«
    Er ließ sich auf die Stute heben, Tahâma stieg hinter ihm auf und trieb das Pferd den Waldpfad entlang. Die Stunden verstrichen, noch immer hüllte dichter Nebel sie ein, so dass sie nicht einmal bis zu den Wipfeln hinaufsehen konnten. Schweigend standen die Bäume zu beiden Seiten. Nicht ein Windhauch ließ die verdorrten Nadeln rascheln. Es schien auch kein Tier in dieser Nacht unterwegs zu sein. Nur der Nebel wallte um sie auf und brachte den Geruch von Moder und Tod mit sich. Sanft tätschelte Tahâma den Hals der Stute. Sie spürte, dass das Tier nur widerstrebend weiterlief.
    Endlich ließen sie die Bäume und mit ihnen den Nebel zurück. Tahâma zügelte das Pferd.

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