Die Seele der Nacht
du von den steinernen Wölfen?«, fragte der Gnom leise. Er deutete auf zwei übergroße Statuen, die zu beiden Seiten des Tores halb aufgerichtet an den Wänden standen, die leeren Augen auf die Mitte des Torwegs gerichtet, die langen Reißzähne entblößt.
»Wenn nicht diese Augen wären, würde ich sagen: Es sind nur Figuren«, gab Tahâma zurück. »So aber fürchte ich, wir haben es mit Wächtern zu tun, die nicht ermüden und niemals schlafen. Trotzdem müssen wir es wagen! Nimm die Zügel und geh rasch mit mir unter dem Fallgitter hindurch. Danach aber bleibe ein paar Schritte zurück. Mach dich bereit!«
Der Erdgnom nickte. Seine dürren Finger umkrampften den Riemen des Pferdegeschirrs.
Tahâma umfasste den Stab mit dem blauen Kristall. »Los jetzt!«
Mit drei schnellen Schritten hatten sie das Fallgitter passiert. Dahinter blieben Wurgluck und das Pferd stehen, während Tahâma entschlossen weiterrannte. Erst schien es, als würde nichts geschehen, dann aber, als sie ihren Fuß auf die Pflastersteine zwischen den steinernen Wölfen setzte, glühten die Augen in den leeren Höhlen rot auf. Fingerlange Krallen schossen aus den steinernen Pfoten, die Reißzähne schimmerten, die Köpfe neigten sich, die Klauen der Vorderbeine fielen herab.
»Tahâma!«, schrie der Erdgnom, doch das Mädchen hatte den Stab schon erhoben.
»Blaue Flamme von Krísodul«, sang sie. Zwei Blitze schössen nach beiden Seiten und trafen die erwachten Steinwächter in ihre Augen.
Für einen Moment erstarrten die Wölfe, kleine Risse bildeten sich und schossen dann, sich immer weiter verzweigend, über ihre Körper. Mit einem Knall zersprangen die gewaltigen Standbilder. Scharfkantige Steine wurden wie Geschosse nach allen Richtungen geschleudert, Felsbrocken regneten herab. Aber wie durch ein Wunder blieb Tahâma unverletzt. Eine Staubschicht rieselte auf Wurgluck und die Stute nieder, Tahâmas Haar und Gewand jedoch blieben rein wie immer.
»Schnell weiter!«, drängte sie. »Nun wird wohl jeder in der Feste mitbekommen haben, dass ungebetene Gäste eingedrungen sind.«
Sie hastete nach rechts und verschwand im Schatten einiger niedriger Gebäude. Wurgluck folgte. In einem engen Durchgang verborgen warteten sie atemlos. Nichts regte sich, keine schrecklichen Wesen stürmten aus dem Tor des wuchtigen Gebäudes, um die Eindringlinge zu vernichten.
»Also, entweder gibt es keine weiteren Wächter auf der Burg, oder sie warten, bis wir freiwillig in ihre Arme laufen«, flüsterte Wurgluck. »Das gefällt mir nicht. Lieber wäre es mir, sie würden sich uns offen stellen.«
»Vielleicht sind wirklich keine weiteren Wächter da«, überlegte Tahâma. »Vor wem sollte sich der Lord fürchten? Wer aus Nazagur würde es wagen, hierher zu kommen?«
»Hoffentlich hast du Recht.«
Sie untersuchten die Gebäude, die sich auf dieser Seite an die Mauer duckten. Die meisten waren halb verfallen. Früher hatten sie wohl als Küche oder Gesindekammer, als Stall oder Schober gedient, aber heute waren sie leer. Die Unholde des Lords brauchten keine gekochten Speisen und ihre Reittiere keine Futterkrippen mit Heu und Stroh.
Tahâma band die Stute im hintersten Eck einer alten Scheune an, dann machten sie sich daran, das Haupthaus und den Bergfried zu umrunden. Das Wohngebäude bestand aus einem sehr alten Teil, der wohl aus der Zeit des Bergfrieds stammte, und einem in neuerer Zeit angebauten Westflügel. Eine breite Treppe führte zum inneren Burgtor, einer alten, zweiflügeligen Eichentür, die mit Eisen beschlagen war. Bei ihrem Rundgang fanden sie jedoch noch einen zweiten Zugang: eine schmale Pforte an der Rückseite des Westflügels. Zu ihrer Überraschung war sie nicht verschlossen, und so betraten Tahâma und Wurgluck das Herz von Tarî-Grôth.
Sie gelangten in einen engen, finsteren Gang. Tahâma ließ den Kristall schwach glimmen, so dass sie den Weg einige Schritte weit erkennen konnten. Rechts und links gingen schmale Türen ab, die Kammern dahinter waren leer. Sicher waren sie einst von den Dienstboten früherer Grafen bewohnt worden. Bald bog der Gang nach links ab und brachte sie zu einer einfachen, steinernen Halle. Eine stattliche Treppe führte nach oben, eine schmalere wand sich in den Keller hinunter, ein Torbogen, der die dicken Wände des alten Haupthauses durchschlug, führte in den ältesten Wohntrakt hinüber. Vorsichtig setzten Tahâma und Wurgluck ihren Rundgang fort. Sie schritten durch den Mauerbogen und
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