Die Seele der Nacht
Verängstigten.
»Verzeiht, guter Mann, es lag nicht in unserer Absicht, Euch zu erschrecken, aber es scheint, als wärt Ihr auf der Flucht? Sagt doch, können wir Euch helfen?«
»Ihr seid nicht von hier!«, stieß der Mann hervor. Seine Stimme zitterte. »Habt Ihr die große Schlucht durchschritten und den Durunban überquert? Könnt Ihr mir den Weg weisen?«
»Aber ja!«, antwortete sie und lächelte den Mann freundlich an. »Kaum eine Wegstunde über diese Wiesen in Richtung Süden gelangt Ihr zum Abstieg in die Schlucht. Aber...«
Tränen schossen in die von tiefen Falten umkränzten Augen. Der Mann fiel auf die Knie. »Ich bin gerettet«, stieß er hervor. »Die Finsternis wird mich nicht bekommen!«
»Aber«, sagte Tahâma noch einmal und sah ihn verblüfft an, »was ist Euch so Schreckliches geschehen?« Schaudernd spürte sie, dass dieser Mann Grauenvolles erlebt haben musste.
Hastig stemmte er sich wieder hoch. »Flieht«, rief er, »flieht schnell, bevor die Nacht hereinbricht und die Schatten kommen!«
Tahâma öffnete den Mund, um ihn um eine Erklärung zu bitten. Von was für Schatten sprach er, und welchen Schrecken bargen sie in sich? Doch ehe sie ihre Gedanken in Worte fassen konnte, rannte der Mann über die Wiese davon, auf die Schlucht zu. Für einen Moment sahen die drei ihm erstaunt nach, dann lief Céredas ihm hinterher.
»So wartet doch!«, rief er und packte ihn beim Kittel. Der Fremde wehrte sich heftig und versuchte sich loszureißen, aber Céredas war stärker. »Berichtet uns, was hier vor sich geht, dann lassen wir Euch ziehen.«
Der Mann fiel wieder auf die Knie und umklammerte Céredas’ Beine. »Lasst mich gehen«, flehte er. »Ich fürchte, ich werde verrückt, wenn ich von dem Schrecken sprechen muss.«
Céredas schüttelte ihn. »Ich lasse Euch erst frei, wenn Ihr mir eine Antwort gegeben habt!«
»Sie sind tot, alle tot«, wimmerte der Mann. »Mein Weib, meine Kinder, alle, die ich kannte und liebte. Der Schatten hat sie geholt.«
Verblüfft lockerte Céredas seinen Griff. Der Fremde nutzte die Chance, riss sich los und rannte weiter auf die felsige Linie zu, hinter der sich die Schlucht verbarg. Langsam ging der Jäger zu den Gefährten zurück.
»Was hat er gesagt?«, fragte Tahâma.
»Ich konnte kein vernünftiges Wort aus ihm herausbringen«, antwortete Céredas kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich ist er einfach nur verrückt.«
Wurgluck zog die Augenbrauen zusammen und sah den Jäger aufmerksam an. »So, so«, murmelte er.
Céredas beachtete ihn nicht. »Lasst uns weitergehen«, schlug er vor. »Wir sollten uns eine geschützte Stelle für die Nacht suchen.«
Tahâma blickte zur Sonne, die sich zu röten begann und auf die Wipfel der Bäume niedersank. Schweigend folgte sie Céredas. Sie wanderten bis zum Waldrand und dann nach Westen, bis sie auf einen zerklüfteten Felsen stießen. Die letzten Sonnenstrahlen waren bereits auf den gefiederten Wolken verglommen, und es wurde schnell dunkel.
Céredas eilte am Fuß der Blöcke entlang, bis zu einer vorkragenden Platte, die eine kleine Höhle in ihrem Schatten barg. »Es ist sicher nicht die beste Unterkunft, aber sie bietet uns jedenfalls mehr Schutz als das offene Feld.«
»Dann sollten wir hier übernachten«, stimmte Wurgluck zu. Er zog sein Bündel von der Schulter, trat unter den Felsvorsprung und ließ sich dicht an der lehmigen Rückwand auf den Boden sinken.
Tahâma bückte sich und kroch hinter ihm ins Dunkel. Die Schatten zogen sich zusammen, bis die drei kaum mehr die Hand vor den Augen sehen konnten. Ein kalter Wind strich draußen um die Bäume und kroch unter den Felsvorsprung. Tahâma spürte einen rauen Block in ihrem Rücken und die Kühle, die unter ihr Gewand kroch. Fröstelnd zog sie den Umhang enger um sich und umfasste den Griff ihres Stabes. Sie strich mit ihrem Zeigefinger über die glatten Flächen des Kristalls. Gerne hätte sie ihre Flöte hervorgezogen und eine tröstliche Melodie gespielt, aber sie wagte nicht, die Stille zu durchbrechen. Etwas war anders als in den Nächten zuvor. Eine seltsame Kälte legte sich auf ihr Gemüt.
»Ich werde wachen«, sagte Céredas leise. »Schlaft ruhig.«
Sie hörte seinen Umhang rauschen. Dann konnte sie seine Umrisse erahnen, wie er zusammengekauert am Eingang saß, den Kopf lauschend erhoben, die Axt in den Händen. Auch sie selbst war hellwach. Schweigend lehnte sie sich an den Fels. Sie hörte den Wind und ab und zu den Ruf eines
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