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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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geäderten Blättern und fein gefiederte Heinfächer, die eine Höhe von fünfzig Fuß erreichten. Als die Sonne über ihnen im Zenit stand, rasteten sie auf einer Lichtung und aßen Trockenfrüchte und Nüsse. Danach hielten sie sich weiter in Richtung Norden, bis sie am Nachmittag den Rand des Waldes erreichten. Vor ihnen erstreckten sich eine Wiese, durch die sich ein Bachlauf wand, und einige Streifen Land, denen man ansah, dass sie von fleißigen Händen bearbeitet worden waren: in Furchen gelegt und von Unkraut befreit, den Samen gesetzt und die Pflänzchen gehegt. Ein schmaler Pfad führte an den mit Reisig umzäunten Gärten entlang, überquerte auf einer Holzplanke den Bach und verschwand dann in einer Baumgruppe jenseits des Wassers.
    Céredas sah sich misstrauisch um und hielt die anderen mit einer Handbewegung in den Schatten der Bäume zurück. Nichts rührte sich in dem weiten Land vor ihnen, nur die Schmetterlinge tanzten in der sonnenwarmen Luft.
    »Wollen wir dem Pfad nicht folgen? Wie sollen wir etwas über dieses Land erfahren, wenn wir mit niemandem sprechen«, drängte Tahâma. »Vielleicht sind die Tashan Gonar hier vorbeigekommen.«
    Céredas nickte widerstrebend. Er reckte den Hals und sog die Luft tief in seine Lunge, dann wandte er sich dem Mädchen zu und lächelte. »Ja, gehen wir und hoffen, dass wir etwas über den Verbleib deines Volkes erfahren.«
    Sie gingen am Rand der Felder entlang, auf denen Kohl und Rüben wuchsen, und überquerten dann den Bach. Der Pfad schlängelte sich zwischen Blumen und Gräsern auf eine Baumgruppe zu, unter deren Zweigen sie bald eine solide gezimmerte Hütte erkennen konnten. Die Sonne schien warm in ihre Gesichter, und dennoch fröstelte Tahâma plötzlich und sah sich nervös um, aber sie konnte nichts Bedrohliches entdecken.
    Céredas lief lautlos voraus und legte sein Ohr an die grün gestrichene Tür. Dann schlich er zu dem mit dunklem Holz gerahmten Fenster und lugte hinein. »Niemand zu sehen.«
    Auch Wurgluck näherte sich nun der Tür und klopfte laut dagegen, doch nichts rührte sich.
    »Vielleicht sind die Bewohner draußen auf ihren Feldern«, vermutete Tahâma und trat nun auch heran.
    Der Erdgnom reckte sich und drückte auf den Knauf. Mit einem leisen Knarren schwang die Tür auf. Sonnenlicht flutete über den rötlichen Dielenboden, und Tahâma erhaschte einen Blick auf einen mit buntem Linnen bedeckten Tisch, eine lange Bank und einen massigen eisernen Ofen. Sauber und gemütlich sah alles aus. So friedlich. Verwirrt fühlte sie, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.
    »Wurgluck, du kannst nicht einfach in eine fremde Hütte eindringen!«, versuchte sie den Erdgnom aufzuhalten, aber er war schon eingetreten. Sein erstickter Aufschrei ließ Céredas und Tahâma herbeieilen.
    Auf den ersten Blick sah das Mädchen nichts, was den Erdgnom erschreckt haben könnte. Die ganze Hütte wirkte sehr einladend, obwohl die Einrichtung einfach und auf schmückendes Beiwerk verzichtet worden war. Dann aber folgte ihr Blick Wurglucks ausgestrecktem Finger, und sie taumelte einen Schritt zurück. Im Schatten vor dem Bett lag ein regloser Körper.
    Es war nicht die Tatsache, dass die Frau tot war, die sie so erschreckte. Der Tod gehörte zum Leben, zum Werden und Vergehen. Die Seelen der Toten wanderten in die oberen Sphären, um von dort irgendwann wiederzukehren. Sie bildeten den See, aus dessen Wasser alle Wesen Phantásiens hervorgingen, um in einer anderen Gestalt zu einer neuen Geschichte zu werden. So hatten die Alten des Dorfes es stets erzählt. In jeder Totenfeier schwang daher unter der Trauer auch Hoffnung und Zuversicht mit.
    Beim Anblick dieser Toten in der einsamen Waldhütte jedoch konnte Tahâma weder Hoffnung noch Zuversicht empfinden. Was war es, das diesen Schrecken verbreitete? War es das Entsetzen, das sich in dem eingefallenen Antlitz spiegelte? Die zu Krallen vertrockneten Hände, die sich wie in verzweifelter Gegenwehr emporstreckten? Die Frau war sicher noch jung gewesen, nun aber lag der Körper ausgemergelt vor ihnen.
    »Das ist seltsam«, sagte Céredas, der als Erster seine Stimme wiederfand. »Ihr Körper sieht aus wie eine Mumie, wie die Krieger aus dem vergangenen Zeitalter, die oben in den Höhlen im Felsengebirge begraben sind. Aber diese Körper sind viele tausend Jahre alt!«
    Wurgluck nickte und trat vorsichtig einen Schritt näher. »Ja, und diese Frau kann noch nicht lange tot sein. Seht euch ihre Kleider an,

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