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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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einen Schrecken um sich verbreiten?
    Der Kristall in Tahâmas Hand begann blutrot zu zucken. Kleine Funken knisterten über seine spiegelnden Flächen. Für einen Moment war das Mädchen von dem unheimlichen Wesen der Nacht abgelenkt. Was sollte das bedeuten? So etwas hatte Krísodul noch nie gemacht. Noch einmal erscholl der grausige Schrei, dann verschwand die Kälte aus ihren Gemütern. Der Schatten verwehte, und nur noch der Wind flüsterte in den Blättern.
    »Es ist vorbei.« Wurgluck seufzte und ließ sich auf den Boden sinken, so als wollten seine dürren Beinchen ihn nicht mehr tragen. Er zog seine Büchse mit der glühenden Kohle hervor und entzündete einen Zweig. Im Schein des Lichts sah er in Céredas’ versteinerte Miene. Der junge Mann war totenblass.
    »Willst du es, was immer das war, wieder herbeilocken?«, fauchte er. Mit einer hastigen Bewegung kam er auf Wurgluck zu. Seine Hand schnellte vor, als wolle er ihm den brennenden Ast entreißen, aber dann hielt er inne. Um seine Lippen zuckte es, die Augenbrauen zogen sich zusammen. Mit einer ungeduldigen Bewegung schüttelte er den Kopf.
    »Es ist weg«, sagte Wurgluck entschieden. Seine Augen huschten aufmerksam über den jungen Jäger.
    »Ich kann es auch nicht mehr spüren«, stimmte ihm Tahâma zu.
    Céredas schluckte. »Ja, ihr habt vermutlich Recht.« Er versuchte zu lächeln. »Was war das? Ich konnte es nicht recht erkennen, aber ich bin mir sicher, dass es nichts ähnelt, was ich je in den Schluchten und auf den Höhen des Felsengebirges gesehen habe.«
    Tahâma horchte in sich hinein. Wie ein Echo klang die Kälte noch in ihr nach. »Nein«, hauchte sie, »so etwas kennen wir auch im Land der Tashan Gonar nicht.«
    »Zumindest wissen wir nun, dass es in dem so gelobten Land tatsächlich etwas gibt, das einige Bewohner von Nazagur dazu bringen könnte, ihre Heimat für immer zu verlassen«, bemerkte Wurgluck.
    »Um in ein Land zu ziehen, das vom Nichts nach und nach verschlungen wird!«, fügte Tahâma schaudernd hinzu. Sie sah die Tashan Gonar vor sich, wie sie voller Hoffnung und Freude aufgebrochen waren, um hier eine neue, sichere Heimat für sich und ihren Musikschatz zu finden. Das Herz schmerzte in ihrer Brust. Sie durfte sich jetzt nicht diesen düsteren Gedanken hingeben. Auch in den Nanuckbergen und anderen Ländern Phantásiens gab es schon seit jeher unheimliche Wesen und todbringende Tiere, und doch hatten die Tashan Gonar viele Generationen lang friedlich in ihrem Tal gelebt.
    »Ihr solltet versuchen zu schlafen, ich werde wachen«, sagte Céredas, und zu Tahâmas Überraschung widersprach der Erdgnom diesmal nicht.
    Wurgluck kuschelte sich in eine Mulde, gähnte und zog seinen Umhang hoch. Bald schon ging sein Atem gleichmäßig. Tahâma versuchte es ihm gleichzutun, aber sie war noch zu aufgewühlt, und zu viele Fragen kreisten in ihrem Kopf.
    Céredas setzte sich wieder an den Höhleneingang und schlang den Umhang um seine Schultern. Die Begegnung mit dem Schattenwesen beunruhigte ihn mehr, als er bereit war zuzugeben. Nie zuvor hatte er solche Angst verspürt! Nicht beim Kampf mit dem Manticore und auch nicht, als ihm die Rubinotter in die Augen gestarrt hatte. Aber es war nicht nur Furcht. Eine seltsame Erregung hatte sich in ihm ausgebreitet. Er lauschte in sich hinein. Sein Bein pochte wieder vor Schmerz, ansonsten konnte er nichts Außergewöhnliches entdecken. Vielleicht forderten der lange Marsch und die Nachtwachen ihren Tribut. Oder schwächte ihn die Verletzung noch immer? Céredas schob den Gedanken beiseite. Er war ein starker Krieger und nicht zum ersten Mal verwundet. Solange die Verletzung nicht wieder nässte, war sie keinen weiteren Gedanken wert.
    Langsam wurde er schläfrig. Die Müdigkeit drückte auf seine Lider, doch er widerstand der Versuchung, sie zu schließen. Er wachte über den Schlaf seiner Freunde, bis der Morgen nahte.
     

Kapitel 4
Nächtliche Schatten
    Am Morgen, als die Sonne aufging, machten sich die drei wieder auf den Weg. Sie drangen in den Wald ein und wanderten immer weiter nach Norden, mitten hinein ins Land Nazagur. Von den nächtlichen Ungeheuern war keine Spur geblieben, nur der Hauch der Erinnerung spukte noch durch ihre Sinne. Anfangs war der Wald dicht und düster. Uralte Baumriesen ragten in den Himmel. Die trockenen Nadeln knackten unter ihren Schritten. Um die Mittagszeit mischten sich immer mehr Eichen und Buchen unter das Grün, aber auch knorrige Fingerbäume mit rot

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