Die Seele der Nacht
Wind wehte von Norden her über die Schlucht und zerrte an ihren Umhängen. So suchten sie in einer felsigen Mulde zwischen dichten Büschen Schutz, aßen ein wenig, tranken Wasser aus den Schläuchen und legten sich dann zum Schlafen.
Die Nacht war noch nicht weit fortgeschritten, als Céredas erwachte. Er drehte sich auf die andere Seite, konnte jedoch keinen Schlaf mehr finden. Was hatte ihn geweckt? Drohte ihnen Gefahr? Er richtete sich auf und sah sich aufmerksam um. Die Sterne beleuchteten Tahâma, die unter ihrem Umhang friedlich schlief. Der Stoff passte sich so gut dem sandigen Grund an, dass Céredas nur ihren Kopf und das lange, blaue Haar sehen konnte. Sein Blick wanderte weiter durch die Senke. Wo war Wurgluck geblieben? Hatte er sich nicht dort drüben unter dem tief hängenden Ast mit den fleischigen Blättern zur Ruhe gelegt?
Leise erhob sich der Jäger und trat zu dem Busch hinüber, doch der Gnom war nicht zu sehen. Céredas löste seine Axt vom Gürtel. Irgendetwas stimmte hier nicht. Spielte der Erdgnom ein doppeltes Spiel? Was hatte er vor? Oder war ihm etwas zugestoßen? Ein merkwürdiges Knirschen und Schaben, das von der anderen Seite der Schlucht zu kommen schien, ließ ihn herumfahren. Geduckt kletterte er aus der Senke. Wieder erklang das seltsame Geräusch. Der Jäger schlich, zwischen Büschen und Steinblöcken Deckung suchend, auf die Schlucht zu. Er hatte die Felskante fast erreicht, da entdeckte er eine kleine, dürre Gestalt, die reglos auf einem Steinblock saß. Lautlos trat Céredas heran.
»Schmerzt dich dein Bein wieder?«, fragte der Gnom, ohne sich umzudrehen.
»Nein«, log Céredas rasch und setzte sich neben Wurgluck. Das Pochen in seinen Adern beunruhigte ihn weniger als die Tatsache, dass der Erdgnom ihn so einfach entdeckt hatte.
Wieder knirschte es drüben an der anderen Felskante. »Was geschieht dort?«, fragte er. »Kannst du etwas erkennen?«
Wurgluck deutete nach Westen. »Da, sieh dir die Hangkante an«, sagte der Gnom.
Céredas kniff die Augen zusammen. Sein Blick huschte über die Kante, die an dieser Stelle ein Stück vorsprang und sich als schwarze Silhouette gegen den sternenbesetzten Himmel abhob. Und da sah er es. »Es scheint, als würde der Fels wachsen«, sagte er verblüfft.
Wurgluck nickte. »Ja, so kommt es mir auch vor, und ich frage mich, was das zu bedeuten hat.«
Seine Worte gingen in einem donnernden Getöse unter. Unweit von ihrem Platz lösten sich riesige Felsbrocken aus der Wand und fielen in die Schlucht, auf deren Sohle sie donnernd zerbarsten. Nun taten sich auch weiter links Risse im Boden auf, und eine mehrere Schritt breite Scholle kippte in die Tiefe. Der Aufschlag ließ den Grund erzittern.
»Was war das?«, erklang Tahâmas Stimme unvermittelt neben ihnen. »Es fühlte sich an, als wäre die ganze Schlucht eingestürzt.«
Wurgluck wiegte den Kopf hin und her. »Sie stürzt nicht ein«, sagte er, »sie wandert!«
Tahâma sah ihn mit großen Augen an.
»Sie verschiebt sich nach Süden, Stück für Stück«, fügte der Gnom hinzu und deutete auf den gegenüberliegenden Rand, an dem sich wieder ein mächtiger Felsblock aufblähte. »Nazagur breitet sich aus. Es wächst an seinen Rändern, indem es die anderen Länder um sich herum verschlingt. Es nährt sich von anderen Teilen Phantásiens!«
Tahâma warf dem Erdgnom einen erstaunten Blick zu. Sie hatte ihn zornig und schmollend wie ein Kind erlebt, überheblich oder schrullig, aber offensichtlich gab es noch ganz andere Seiten an ihm zu entdecken. Er war wohl ein klügerer Kopf, als es der erste Anschein vermuten ließ. Sie setzte sich neben den Erdgnom und beobachtete, wie immer mehr Steinblöcke und Felsen auf der anderen Schluchtseite heranwuchsen. Schweigend lauschten sie dem Getöse, das gedämpft von Osten her erklang. Sicher war wieder ein Stück der südlichen Ebene in die Schlucht hinabgestürzt.
»Wenn dies an allen Grenzen von Nazagur geschieht, dann wird Phantásien nicht größer, auch wenn Nazagur wächst«, sagte Tahâma, als die Stille zurückkehrte.
Der Erdgnom an ihrer Seite nickte.
»Aber warum? Und was ist mit dem Nichts? Wird es Nazagur auf Dauer verschonen, oder bedeutet dieses Wachstum nur einen Aufschub?«
Wurgluck hob seine dürren Hände. »Das werden wir vielleicht auf der anderen Seite der Schlucht erfahren.«
Auf einmal erhob sich ein anderes Geräusch, das nichts mit dem Getöse der Felsen zu tun hatte. Ein grausiges Heulen wehte zu ihnen
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