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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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nein! Ich habe mir nur über einige Dinge Gedanken gemacht. Es ist nichts weiter.« Er beschleunigte seine Schritte, um Céredas einzuholen.
    »Worüber machst du dir Gedanken?«, fragte sie, aber der Erdgnom antwortete ihr nicht. Mit abweisender Miene lief er neben ihr her, bis sie Céredas erreichten.
    Der Jäger war stehen geblieben und wartete, bis die beiden herankamen. »Dort drüben ist der Abstieg«, sagte er und deutete auf eine weiße Linie, die sich in steilen Serpentinen die Wand hinabzog. Anscheinend war der Pfad noch in Ordnung. Oder grub er sich selbst immer wieder neu, wenn die Felsen auf der Südseite der Schlucht zurückwichen?
    Kurz darauf erreichten sie den Einstieg. Der Pfad war nur zwei Fuß breit, so dass sie hintereinander gehen mussten. Auf der einen Seite stieg die Wand neben ihnen senkrecht empor, auf der anderen stürzte sie in die Schlucht hinab. Sie mussten langsam gehen, um nicht ins Rutschen zu kommen, doch gegen Mittag erreichten sie den Grund. Vor ihren Füßen rauschte der Fluss und stob in schillerndem Tropfenwirbel an den Felsen auf. Auf Tahâmas Rat folgten sie dem Ufer eine Weile nach Osten, bis der Strom sich nach einer Biegung verbreiterte und nun ruhiger durch sein Kiesbett floss. Céredas hob Wurgluck wieder in sein Bündel, denn das Wasser war hier zwar flacher, reichte den beiden hochgewachsenen Zweibeinern aber immer noch bis über die Hüften. Am anderen Ufer wanderten sie zurück, bis sie den Pfad erreichten, der sie nach Nazagur hinaufführte.
    Die Sonne stand schon tief, als sie die Kante überschritten. Atemlos blieben sie stehen und ließen ihren Blick über die Landschaft schweifen, die sich vor ihnen auftat: saftige Wiesen, die bis zum Saum eines Waldes in der Ferne reichten, ein klarer Bach, der in weiten Schlingen auf die Schlucht zufloss und dann weiß schäumend in die Tiefe stürzte. Die Sonne neigte sich nach Westen und tauchte das Land in ihr goldenes Licht.
    »Wie wundervoll!«, flüsterte Tahâma. »Was für ein herrliches Land!« Sie stimmte ein fröhliches Lied an.
    »Vielleicht«, brummte Wurgluck so leise, dass sie es nicht hören konnte. »Vielleicht aber auch nicht. Wie viele Völker hat der Glanz falschen Goldes ins Unglück gestürzt?« Er dachte an die seltsamen Gestalten in der Nacht, an das Heulen und Schreien. Hatte dieses Land ein zweites, finsteres Gesicht? Der Erdgnom beschloss die Augen offen zu halten. Er würde sich nicht so leicht von einem schönen Schein übertölpeln lassen, dachte er grimmig. Der Jäger und das Mädchen dagegen schienen frohen Mutes zu sein, als sie die Bachaue durchquerten und auf den Waldsaum im Norden zugingen.
    Kaum eine Stunde waren die Reisenden in Nazagur unterwegs, da duckte sich Céredas plötzlich hinter einen Busch und riss den Bogen von der Schulter. Tahâma und Wurgluck folgten ihm eilends.
    »Was ist?«, flüsterte das Mädchen und lugte zwischen den Zweigen hindurch.
    »Da drüben zwischen den Bäumen bewegt sich etwas.« Der Jäger legte einen Pfeil an und spannte die Sehne.
    Jetzt hatte auch sie die Gestalt entdeckt, die immer wieder zwischen den Baumstämmen auftauchte. Tahâma kniff die Augen zusammen. Was war das für ein Wesen? Nun brach es durch die Büsche am Waldrand, und sie erkannten, dass es ein Mann war. Als die Sonne ihn erfasste, blieb er für einen Moment blinzelnd stehen. Dann ging er seltsam schwankend weiter. Vermutlich war er ein Nazagur, obwohl er mit seiner gedrungenen Gestalt, dem kurzen braunen Haar, der gebräunten Haut und dem buschigen Bart den Besuchern, die Tahâma in ihrem Dorf kennen gelernt hatte, nicht sehr ähnlich sah. Sie waren von großer Gestalt gewesen mit weißer Haut und schwarzem Haar und ebenso dunklen Augen.
    Der Mann näherte sich dem Gebüsch, hinter dem die Freunde in Deckung gegangen waren. Bald konnten sie seine Gesichtszüge erkennen, die grauen Augen, die weit aufgerissen waren, und den wie in panischer Angst geöffneten Mund.
    Als er noch etwa zehn Schritte von ihnen entfernt war, sprang Céredas hinter dem Busch hervor und richtete die Spitze des Pfeils auf ihn. »Wer seid Ihr, und wohin seid Ihr so eilig unterwegs?«, fragte er ruhig.
    Der Mann fuhr zurück. Er legte beide Hände an sein Herz und stöhnte. Tahâma sah seine Pupillen sich weiten und fühlte die Panik, die ihn erfüllte. Sie trat an Céredas’ Seite und legte ihre Hand über die Pfeilspitze. Ohne das Stirnrunzeln des Jägers zu beachten, wandte sie sich mit warmer Stimme an den

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