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Die Seele der Nacht

Die Seele der Nacht

Titel: Die Seele der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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betrachtet die Hütte. Auf dem Tisch steht eine Mahlzeit, die noch nicht verdorben ist.« Der Erdgnom kniete sich hin und berührte die ledrige Haut der Toten mit den Fingerspitzen. »Nein, so etwas habe ich noch nicht gesehen.« Er hockte sich auf den Boden, zog ein dünnes Buch aus seinem Bündel und begann ein leeres Blatt mit Schriftzeichen zu füllen.
    »Wir sollten sie begraben und ihr ein Totenlied singen«, schlug Tahâma vor.
    Céredas zögerte, doch dann nickte er. »Komm, Wurgluck!«
    Der Erdgnom brummte, steckte aber seine Aufzeichnungen wieder ein und folgte den beiden hinaus. Im Schuppen hinter der Hütte fanden sie Hacke und Schaufel, mit denen der Jäger eine flache Grube in der weichen Erde des Gartens aushob. Währenddessen spielte Tahâma auf ihrer Flöte die Harmonien, die das Grab für die Tote bereiten sollten.
    Céredas hielt in seiner Arbeit inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was tust du da?«
    Sie ließ die Flöte sinken. »Die Harmonie trägt die Seele davon. Das hat mir Thurugea, die Mutter der Harmonie, geantwortet, als ich ihr vor vielen Jahren an einem offenen Grab dieselbe Frage gestellt habe. Nur so kann das Wesen des Toten in Frieden aufsteigen und seinen Körper dem Vergessen überlassen.«
    »Was für ein Unsinn!«, widersprach der Jäger. »Musik!
    Harmonie! An etwas anderes könnt ihr Blauschöpfe wohl nicht denken. Unsere Krieger werden in ihrem besten Gewand begraben, ihre Waffen in den Händen, und die Alten hüten ihre Gräber, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.«
    »Was soll ein toter Körper, der in der Erde zerfällt, mit Axt und Bogen anfangen können?« hielt Tahâma dagegen.
    »Wenn ihr euren Streit allmählich beenden würdet, könnten wir die Tote begraben, bevor es dunkel ist«, ließ sich der Erdgnom vernehmen, der mit untergeschlagenen Beinen im Gras saß.
    Die beiden sahen sich betreten an. Eilig grub Céredas weiter.
    Als sie in die Hütte zurückkehrten, flutete warmes Abendlicht über den Boden bis zum Bett hinüber, die Leiche jedoch war verschwunden. Wie angewurzelt blieben die drei Freunde stehen und starrten auf die Stelle, wo die tote Frau gelegen hatte. Der Gnom beugte sich vor, bis seine Nase fast den Boden berührte, und suchte die ganze Hütte ab, aber alles, was er fand, war ein kleines Häufchen feinen Staubes vor dem Bett.
    »Das kann nicht sein!«, sagte Céredas. »Wir haben sie alle drei gesehen, und niemand hätte sie unbemerkt wegtragen können. Das ist einfach nicht möglich.«
    »Du siehst ja, dass es möglich ist«, erwiderte der Erdgnom und zog sich aufs Bett hoch. Dort saß er, ließ die Beine baumeln und sah mit gerunzelter Stirn auf den Staub zu seinen Füßen.
    Obwohl auch er ein ungutes Gefühl hatte, überredete Wurgluck den Jäger und das Mädchen, die Nacht über in der Hütte zu bleiben. Der Tag neigte sich, und hier fanden sie alles, was sie an einem normalen Abend hätten begehren können: eine wohlgefüllte Vorratskammer, frisches Wasser, einen Ofen, das Feuerholz sauber daneben gestapelt, und ein weiches Bett, auf dem sie bequem zu dritt Platz fanden. Dennoch fühlte sich Wurgluck an diesem Ort nicht wohl. Die seltsame Leiche und ihr unerklärliches Verschwinden beunruhigten ihn.
    Während Tahâma Gemüse im Kessel schmorte, saß der Gnom immer noch auf dem Bett und brütete über seinen Aufzeichnungen. Was hatte er bisher über die nächtlichen Wesen herausgefunden? Hatten die Schatten die Frau getötet? Woran war sie gestorben? Eine Verletzung hatte er an ihrem Körper nicht feststellen können. Fast könnte man glauben, sie hätte sich zu Tode geängstigt, dachte der Erdgnom, aber was war mit ihrem Körper geschehen?
    Tahâma rief zu Tisch. Schweigsam saßen sie beisammen, aßen Gemüseeintopf und tranken heißen Kräutersud mit Honig. Wurglucks Gedanken wanderten in die Nacht hinaus. Céredas hatte den schweren Riegel vorgelegt, aber vermutlich glaubte auch er nicht, dass Tür und Riegel ihnen Schutz bieten konnten, falls die Schatten in dieser Nacht zurückkehrten.
    Im Schrank hinter einem Vorhang fand Tahâma Decken, Leinentücher und Kleider, die sicher nicht alle der Toten gehört hatten. Darunter waren auch die Gewänder für einen kräftigen Mann und mehrere Kinder. Wo waren sie geblieben? Waren sie alle tot, ihre Leichen verschwunden?
    Tahâma zog Decke und Leintuch vom Bett und bedeckte es mit frischer Wäsche, dann legte sie sich auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. Ihre Augen

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