Die Seele der Nacht
Céredas ein. »Wo liegt denn dieses Land?«
Wurgluck stapfte hinter ihm her, den Blick auf den erdigen Pfad gerichtet. »Das können nicht einmal die Weisesten sagen«, murmelte er. »Jedenfalls liegt das Menschenreich jenseits der Grenzen von Phantásien.«
»Und wie ist es dort?«, bohrte der Jäger weiter, doch Wurgluck hob die Schultern.
»Das kann ich nicht sagen, ich war nicht dort. – Kein Phantasier war jemals dort!«
Céredas schürzte ungläubig die Lippen. »Wie kannst du etwas über ein Reich außerhalb Phantásiens wissen, das noch keiner gesehen hat? Und sagt man nicht, das Reich der Kindlichen Kaiserin habe gar keine Grenzen?«
»Es waren schon Menschen in Phantásien«, sagte Tahâma plötzlich, die sich an eine Geschichte erinnerte, die ihr Granho, der Vater des Rhythmus, erzählt hatte. »Nicht wahr, Wurgluck? Menschen können zu uns reisen.«
Der Erdgnom nickte. »Ja, soweit ich weiß, waren sie früher häufig zu Besuch. Vor allem Kinder kamen damals, aber ich habe schon lange nicht mehr von einem menschlichen Besucher gehört.«
Der steile Pfad verhinderte jedes weitere Gespräch. Schweigend folgten Tahâma und der Gnom Céredas den gewundenen Pfad hinauf, bis die Felszacken mit ihren glatten, hellgrauen Wänden direkt über ihnen aufragten. Es schien, als wäre dort kein Durchkommen, aber der schmale Weg führte um einen Block herum und dann in eine enge Schlucht. Die lotrechten Wände standen so nahe beisammen, dass sie wieder hintereinander gehen mussten. Der Himmel über ihnen war nur noch ein blassblaues Band. So gingen sie einige Minuten, bis die Felswände unvermittelt zurückwichen und den Blick in einen weiten Talkessel mit flachen, grünen Hängen freigaben.
Unten auf dem Grund waren Weiden und Felder mit wogendem Korn, in einem schilfgesäumten See spiegelten sich die Federwolken. Am Ufer sahen sie eine Ansammlung geduckter Häuser. Die meisten waren nur einstöckig mit flach geneigten Dächern, es gab aber auch einen stattlichen Bau mit Giebeldach und dunklen Fachwerkbalken sowie einen steinernen Turm, über dessen Plattform eine große Glocke in der Sonne glänzte. Ein Stück weiter, auf einer Wiese mit jungen Obstbäumen, waren drei Scheunen errichtet worden. Davor weideten einige blauschwarze Pferde, sonst konnten sie von hier oben keine Lebewesen entdecken. Dennoch wirkte das Dorf frisch und lebendig. So beschleunigte Tahâma ihre Schritte beim Abstieg, in der gespannten Erwartung, endlich die Bewohner dieses Landes kennen zu lernen.
Je näher die drei Wanderer dem See und der kleinen Siedlung an seinem Ufer kamen, desto breiter wurde der Weg. Bald konnten sie mit bunten Wicken bewachsene Zäune erkennen, Beete voller Blumen oder Gemüse, kleine Springbrunnen und zierliche Windräder. Weiter die Straße hinunter ruhte eine Katze auf einer Fensterbank und ein Hund schlief am Fuß des Brunnens, von den Dörflern aber war immer noch niemand zu entdecken.
Als sie den eingezäunten Garten des ersten Hauses erreichten, blieb Tahâma unvermittelt stehen. Sie sah auf die Blumen hinab, die ihr von weitem so prächtig erschienen waren. Jetzt wirkten sie, als hätte sie ein Wintersturm überrascht. Die Blüten waren an den Rändern farblos, die Blätter wurden dürr, die Stängel wirkten gläsern wie nach dem ersten Frost. »Wir werden hier niemanden lebend finden«, murmelte sie und horchte verwundert ihren eigenen Worten nach.
Céredas drehte sich zu ihr herum. »Wie kommst du darauf? Ich kann bisher nichts Ungewöhnliches entdecken.«
Sie zog sich schaudernd ihren Umhang um den Leib. »Ich spüre einen Schatten über diesem Ort. Viel Leid ist hier geschehen, vor nicht allzu langer Zeit. Grausame Stimmen ziehen noch immer durch die Luft, und die Seelen klagen ihr Totenlied.« Ihre Lider flatterten, dann jedoch sah sie den Jäger fest an. »Vergiss, was ich eben gesagt habe. Es war nur so ein Gefühl. Anscheinend schlägt mir die Tote in der Hütte noch aufs Gemüt. Lass uns weitergehen!«
Die beiden gingen weiter, auf den großen Platz mit dem Brunnen in der Mitte des Dorfes zu.
Wurgluck folgte ihnen langsam. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte immer wieder den Kopf. »Nur so ein Gefühl, so, so. Man hat seine Gefühle nicht umsonst! Sie sind oft schlauer als der Geist, der sich durch die Bilderflut in den Augen verwirren lässt. Mein Gefühl sagt mir, dass es für mich gesünder wäre, in meiner Höhle im Silberwald zu sein und mich über meine Schwiegersöhne zu
Weitere Kostenlose Bücher