Die Seele der Nacht
Tahâma so sehr, dass sie es nicht in Worte hätte fassen können. Und nun wollte auch noch Céredas sie verlassen.
»Sie haben den Schattenlord zu uns geführt«, wehte eine Stimme an ihr Ohr. »Gegen die Wölfe konnten wir uns wehren, aber gegen den Lord?«
»Der fremde Jäger trägt an allem Schuld«, murrte ein anderer. »Er hat die Feuersbrunst entfacht. Fast wären wir alle in den Flammen umgekommen! Es hätte keine Toten gegeben, wenn er sich nicht eingemischt hätte! So aber mussten wir ohne Deckung in die Nacht fliehen.«
Tahâma sprang auf und zückte ihren Stab. Mit drei schnellen Schritten war sie bei der kleinen Gruppe junger Männer und bohrte dem Wortführer das Holz in die Brust. »Du glaubst, wir hätten den Schattenlord hergeführt? Und was, denkt ihr, ist mit den Bewohnern des Dorfes geschehen, das ihr verlassen vorfandet? Er und seine Untoten haben sie alle ermordet! Man kann die verwaisten Dörfer in ganz Nazagur nicht mehr zählen. Deshalb hat der Lord Boten in die anderen Länder Phantásiens geschickt, um frisches Blut ins Land zu locken! Wir alle sind auf ihre Lügen hereingefallen.«
Blitzschnell wandte sie sich um und bedrohte nun den, der als Zweiter gesprochen hatte. »Und du, Gonthal, was hast du gemacht, als der Lord und seine Kreaturen uns angriffen? Als sie den kleinen Centrâs wegschleppen wollten? Du hast dich hinter den Frauen versteckt und dich zitternd an die Wand gedrückt! Wer von euch starken Männern hat sich den Untoten in den Weg gestellt? Von euch konnte ich keinen erblicken. Also urteilt nicht über einen, der es versucht hat! Ihr glaubt, wenn wir uns nicht gewehrt hätten, dann gäbe es nun keine Toten? Wie naiv seid ihr denn? Glaubt ihr, der Lord von Tarî-Grôth wollte euch einen Höflichkeitsbesuch abstatten?«
»Zumindest die Halle stünde dann noch«, murrte Gonthal.
Tahâmas Atem pfiff vor unterdrückter Wut. Gonthal stieß einen Schrei aus. Von seiner Brust stiegen Rauchschwaden auf.
»Es ist genug«, erklang Céredas’ Stimme neben ihr. Er schob ihre Hand mit dem Stab zur Seite. Gonthals Tunika hatte sich auf der Brust braun verfärbt und ihren Glanz verloren. Céredas legte den Arm um Tahâmas Schulter und zog sie mit zu Wurgluck hinüber.
Drei betagte Männer traten auf Granho und Thurugea zu, verbeugten sich respektvoll und blieben dann in einigem Abstand stehen. »Es war eine schlimme Nacht«, sagte einer von ihnen, »und wir alle fürchten, dass dies nicht die letzte war. Was sollen wir tun? Wie wird es jetzt weitergehen?«
»Jede Hoffnung ist dahin«, sagte Granho leise. »Zurück in unsere Heimat können wir nicht, denn die gibt es nicht mehr. So bleibt uns nichts anderes übrig, als weiter nach Norden zu ziehen. Nun, nachdem er uns gefunden hat, wird er wiederkommen, um seinen Appetit zu stillen, und wir haben nichts, um ihn aufzuhalten – jetzt, wo auch noch der Stein verloren ist«, fügte er hinzu.
»Aber nein«, rief Thurugea und griff unter ihren Umhang. »Hier ist Krísodul«, sagte sie feierlich und reichte ihn dem Alten.
»Und wenn schon«, murrte der Sohn des Rhythmus, »was nützt er uns, wenn wir seine Kräfte nicht beherrschen? Nur Harmonie, Melodie und Rhythmus zusammen können seine ganze Kraft entfesseln.«
»Wir werden einen anderen Hüter der Melodie in unserem Volk finden«, sagte Thurugea sanft. »Es gibt unter den Jungen und Mädchen einige, die die Begabung mitbringen.«
»Vielleicht«, stöhnte Granho, »aber wir haben keine Zeit. Wie lange müssen sie lernen und üben? Wie lange in der großen Sammlung Schachtel für Schachtel öffnen?« Er ließ den Stein in Tahâmas Hände fallen.
Sie drehte den Kristall in ihren Händen. In ihrem Gesicht spiegelte sich der Kampf, den sie in ihrem Innern ausfocht. »Es gibt jemanden, der seine Kräfte entfesseln kann«, sagte sie schließlich. »Centhân da Senetas, mein Großvater!«
»Was hat sie vor?«, murmelte Wurgluck und tauschte mit Céredas einen Blick.
Unter den Blauschöpfen hob Getuschel an. Ein Raunen wanderte durch den Raum. Während die Jüngeren neugierig zu ihr hinsahen, schüttelten viele der Älteren den Kopf. Ablehnung und Furcht, aber auch Verachtung breiteten sich in ihren Mienen aus.
Tahâma stand auf und erhob ihre Stimme, so dass alle sie verstehen konnten. »Ich werde zu meinem Großvater reisen und ihn bitten, das blaue Feuer in Krísodul zu entfachen. Mit seiner Hilfe können wir einen Schutzwall bauen, den der Schattenlord und seine Wesen nicht
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