Die Seele des Königs (German Edition)
Ja«, sagte Gaotona. Er hielt etwas in der Hand. Es war ein kleines, dickes Buch, das Frava nicht kannte.
Aus dem hinteren Teil der Loge kam ein Rascheln. Eine von Fravas Dienerinnen trat ein und schritt an den Schlichtern Stivient und Ushnaka vorbei. Die jugendliche Botin stellte sich neben Frava und beugte sich zu ihr herunter.
Frava schenkte dem Mädchen einen Blick des Missfallens. » Was kann so wichtig sein, dass du mich hier störst?«
» Es tut mir leid, Euer Gnaden«, flüsterte die Frau. » Aber Ihr hattet mich gebeten, Euer Palastbüro für das nachmittägliche Treffen vorzubereiten.«
» Ja, und?«, fragte Frava.
» Habt Ihr gestern den Raum betreten, Herrin?«
» Nein. Ich hatte mit diesem verdammten Blutsiegler zu tun, und mit den Wünschen des Kaisers und …« Fravas Blick wurde immer finsterer. » Was ist los?«
Shai drehte sich um und warf einen Blick zurück auf den Sitz des Kaisers. Die Stadt erstreckte sich über sieben breite Hügel. Die äußeren sechs wurden je von einem Fraktionshaus gekrönt, während der Palast den Hügel in der Mitte beherrschte.
Das Pferd neben ihr sah ein wenig wie das aus, das sie aus den Stallungen mitgenommen hatte. Aber ihm fehlten ein paar Zähne, und es ging mit hängendem Kopf und durchgebogenem Rücken. Sein Fell wirkte, als ob es seit Langem nicht mehr gebürstet worden wäre, und das Tier war so unterernährt, dass die Rippen wie die Latten eines Stuhlrückens hervorstachen.
Shai hatte sich die letzten Tage versteckt gehalten und ihren Bettlerstempel dazu benutzt, sich im Untergrund der Kaiserstadt zu bewegen. In dieser Verkleidung und durch die Umformung des Pferdes war sie ohne Schwierigkeiten aus der Stadt entkommen. Sobald sie draußen war, hatte sie jedoch ihr Siegel entfernt, denn es war ihr unangenehm, wie eine Bettlerin zu denken.
Shai löste den Sattel des Pferdes, griff darunter und legte den Fingernagel auf das dort glühende Siegel. Sie zerbrach den Siegelrand mit einigen Mühen und zerstörte so die Fälschung. Sofort verwandelte sich das Pferd; sein Rücken wurde gerade, es hob den Kopf, die Seiten schwollen an. Unsicher tänzelte es hin und her; der Kopf schnellte vor und zurück und zerrte an den Zügeln. Tzus Kriegspferd war ein feines Tier und in manchen Gegenden des Reiches mehr wert als ein kleines Haus.
Verborgen unter den Vorräten auf seinem Rücken befand sich das Gemälde, das Shai erneut aus Fravas Büroräumen gestohlen hatte. Die Fälschung. Shai hatte noch nie einen Grund gehabt, eine ihrer eigenen Arbeiten zu stehlen. Sie empfand es als … amüsant. Sie hatte es aus dem großen Rahmen geschnitten und eine Reo-Rune in die Wand dahinter geschnitzt. Dieses Zeichen besaß keine sehr nette Bedeutung.
Sie streichelte den Hals des Pferdes. Alles in allem war es keine schlechte Ausbeute: ein feines Pferd und ein Gemälde, das zwar eine Fälschung war, aber so echt wirkte, dass sogar seine Eigentümerin es als das Original angesehen hatte.
Jetzt hält er seine Rede , dachte Shai. Ich hätte sie gern gehört .
Ihr Juwel, die Krönung ihrer Arbeit trug den Mantel kaiserlicher Macht. Das erregte sie; es war genau diese Erregung, die sie angetrieben hatte. Der Wunsch, ihn wieder lebendig zu machen, war nicht der Grund für ihre fieberhafte Arbeit gewesen. Nein, am Ende hatte sie sich so sehr unter Druck gesetzt, weil sie ein paar besondere Veränderungen an seiner Seele vornehmen wollte. Vielleicht hatten die Monate, in denen sie Gaotona gegenüber aufrichtig gewesen war, ein wenig verändert.
Wenn man immer wieder dasselbe Bild auf einen Papierstapel zeichnet , dachte Shai, wird es sich am Ende bis in die unteren Schichten durchdrücken. Tief hinein .
Sie drehte sich um und nahm den Wesenspräger heraus, der sie in eine Jägerin und Überlebenskünstlerin verwandelte. Frava würde annehmen, dass Shai die Straßen benutzte, und deshalb würde sie tief in das Innere des nahegelegenen Waldes von Sodigan eindringen. Dort konnte sie sich gut verstecken. In einigen Monaten würde sie dann vorsichtig aus der Provinz verschwinden und sich an ihre nächste Aufgabe machen: den kaiserlichen Narren zu finden, der sie verraten hatte.
Doch erst einmal wollte sie weit weg von allen Wänden, Palästen und höfischen Lügen sein. Shai schwang sich in den Sattel und verabschiedete sich sowohl vom Kaiserthron als auch von dem Mann, der nun auf ihm saß und herrschte.
Lebewohl, Ashravan , dachte sie. Und mach mich stolz .
Spät an jenem Abend
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