Die Seele des Königs (German Edition)
immer dort hängen zu lassen – und zwängte mich in sein Zimmer. J. C. trug seine eigenen Ohrenschützer, hielt die Pistole mit beiden Händen gepackt und zielte auf ein Foto von Osama bin Laden an der Wand.
Es wurde Beethoven gespielt. Sehr laut.
» Ich habe versucht, ein Gespräch zu führen!«, brüllte ich.
J. C. hörte mich nicht. Er leerte ein ganzes Magazin in bin Ladens Gesicht und trieb dadurch eine Ansammlung von Löchern in die Wand dahinter. Ich wagte nicht, näher zu kommen. Wenn ich ihn überraschte, könnte er mich versehentlich erschießen.
Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn eine meiner Halluzinationen mich erschoss. Wie würde mein Geist das bewerten? Zweifellos gab es mindestens ein Dutzend Psychologen, die darüber gern einen Artikel schreiben würden. Aber ich hatte nicht vor, ihnen Gelegenheit dazu zu geben.
» J. C.!«, schrie ich, als er einmal mit dem Nachladen aufhörte.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, grinste und nahm seine Ohrenschützer ab. J. C.s Grinsen sieht eher wie eine Drohung aus, aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, mich davon nicht einschüchtern zu lassen.
» He, Dürrer«, sagte er und hielt die Pistole hoch. » Willst du auch ein Magazin oder zwei abfeuern? Du könntest ein wenig Übung gut gebrauchen.«
Ich nahm ihm die Pistole ab. » Wir haben den Schießstand aus einem bestimmten Grund in diesem Haus eingerichtet, J. C. Benutz ihn gefälligst.«
» Terroristen triffst du für gewöhnlich nicht auf dem Schießstand an. Nun ja, einmal ist es doch passiert. Aber das war reiner Zufall.«
Ich seufzte, nahm die Fernbedienung vom Beistelltisch und drehte die Musik leiser. J. C. streckte die Hand aus, drehte die Pistolenmündung so, dass sie in die Luft zeigte, und löste meinen Finger vom Abzug. » Sicherheit geht vor, Junge.«
» Es ist doch bloß eine eingebildete Pistole«, sagte ich und gab sie ihm zurück.
» Ja, klar.«
J. C. glaubt nicht, dass es sich bei ihm um eine Halluzination handelt, was ungewöhnlich ist. Die meisten von ihnen akzeptieren es irgendwann. Nicht aber J. C. Er ist groß, ohne fett zu sein; er hat ein kantiges, aber nicht sehr charaktervolles Gesicht und die Augen eines Killers. Das behauptete er jedenfalls. Vielleicht trug er sie in seiner Hosentasche mit sich herum.
Er schob ein frisches Magazin in die Pistole und nahm wieder das Bild Osama bin Ladens ins Visier.
» Nicht«, warnte ich ihn.
» Aber …«
» Er ist sowieso tot. Sie haben ihn schon vor langer Zeit erwischt.«
» Das ist die Geschichte, die wir der Öffentlichkeit erzählt haben, Dürrer.« J. C. steckte die Pistole in den Halfter. » Ich würde sie dir ja gern erzählen, aber ich darf es nicht.«
» Stephen?«, rief eine Stimme von der Tür her.
Ich drehte mich um. Tobias ist eine weitere Halluzination – oder ein » Aspekt«, wie ich sie manchmal nenne. Er ist schlaksig, und seine Haut ist ebenholzfarben. Auf den Wangen hat er dunkle Sommersprossen. Er hielt sein ergrautes Haar sehr kurz und trug einen locker sitzenden, bequemen Anzug ohne Schlips.
» Ich habe mich bloß gefragt«, sagte Tobias, » wie lange du diesen armen Mann noch warten lassen willst.«
» Bis er wieder geht«, sagte ich und trat zu Tobias in den Korridor hinaus. Wir beide gingen von J. C.s Zimmer weg.
» Er war sehr höflich, Stephen«, sagte Tobias.
Hinter uns schoss J. C. weiter. Ich ächzte.
» Ich werde mit J. C. reden«, sagte Tobias mit besänftigender Stimme. » Er versucht nur, seine Fähigkeiten nicht zu verlieren. Er will für dich von Nutzen sein.«
» Na, wenn das so ist …« Ich ließ Tobias stehen und umrundete eine Ecke in dem luxuriösen Haus. Es hatte siebenundvierzig Zimmer, und sie waren fast alle belegt. Am Ende des Korridors betrat ich einen kleinen Raum, der mit einem Perserteppich ausgelegt und mit Holzpaneelen getäfelt war. Ich warf mich auf das schwarze Ledersofa in der Mitte.
Ivy saß in ihrem Sessel neben dem Sofa. » Hast du etwa vor, bei dem Lärm weiterzumachen?«, fragte sie über die Pistolenschüsse hinweg.
» Tobias will mit ihm reden.«
» Ich verstehe«, meinte Ivy und machte eine Eintragung in ihrem Notizblock. Sie trug einen dunklen Straßenanzug mit Hose und Jackett. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Sie war in den frühen Vierzigern und einer der Aspekte, die ich schon am längsten besaß.
» Wie fühlst du dich«, fragte sie, » wenn du bemerkst, dass dir deine Projektionen nicht mehr
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