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Die Seele des Königs (German Edition)

Die Seele des Königs (German Edition)

Titel: Die Seele des Königs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brandon Sanderson
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saß Gaotona nach der Rede des Kaisers vor dem vertrauten Kamin in seinem Arbeitszimmer und betrachtete das Buch, das Shai ihm gegeben hatte.
    Und er wunderte sich.
    Das Buch war eine Darstellung des kaiserlichen Seelenstempels, in allen Einzelheiten und mit Anmerkungen. Alles, was Shai getan hatte, lag nun offen vor ihm.
    Frava würde keine Möglichkeit finden, den Kaiser zu beherrschen, denn eine solche Möglichkeit gab es nicht. Die Seele des Kaisers war vollständig, fest verschnürt und ganz und gar seine eigene. Aber das bedeutete nicht, dass er genau derselbe Mann war, der er früher einmal gewesen war.
    Wie Ihr sehen könnt, habe ich mir einige Freiheiten genommen , stand in Shais Aufzeichnungen. Ich wollte seine Seele so genau wie möglich kopieren. Das war die Aufgabe und die Herausforderung. Und das habe ich getan.
    Dann aber habe ich die Seele noch ein paar Schritte weiter geführt, einige Erinnerungen gestärkt, andere schwächer gemacht. Ich habe tief in Ashravan Impulse eingebettet, die ihn in bestimmter Weise auf das Attentat und seine Genesung reagieren lassen.
    Dadurch habe ich seine Seele nicht verändert. Es ging mir nicht darum, einen anderen Menschen aus ihm zu machen, sondern nur darum, ihn auf einen bestimmten Weg zu bringen, so wie ein Betrüger auf der Straße die Karten zinkt. Er ist er selbst. Er ist derjenige, der er hätte sein können.
    Wer weiß? Vielleicht ist er jetzt derjenige, zu dem er sowieso geworden wäre .
    Das hätte Gaotona natürlich nie allein herausfinden können. Seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren nur schwach ausgeprägt. Selbst wenn er ein Meister gewesen wäre, hätte er Shais Spuren nicht entdeckt. In dem Buch erklärte sie, es sei ihr Ziel gewesen, so vorsichtig und feinfühlig vorzugehen, dass niemand die Veränderungen herausfinden werde. Man müsse den Kaiser durch und durch kennen, um überhaupt den Verdacht hegen zu können, dass etwas an ihm verändert worden sei.
    Mithilfe dieser Notizen erkannte Gaotona es. Ashravans Beinahe-Tod führte ihn in eine Phase der eingehenden Selbstbetrachtung. Er würde sein Tagebuch hervorholen und immer wieder die Berichte über sein jüngeres Selbst lesen. Er würde erkennen, wie er einmal gewesen war, und am Ende würde er versuchen, dieses alte Selbst wiederzubeleben.
    Shai deutete an, dass es eine sehr langsame Verwandlung sein würde. Während der nächsten Jahre würde Ashravan allmählich zu dem Mann werden, der er einmal hatte sein sollen. Winzige Neigungen in den Tiefen der Siegel würden ihn zu Vortrefflichkeit statt zu Schwelgerei antreiben. Statt sich Gedanken über das nächste Fest zu machen, würde er an sein Erbe denken. Er würde sich nicht an seine Verabredungen zum Abendessen, sondern an sein Volk erinnern. Und er würde die Fraktionen zu Veränderungen antreiben, von denen sowohl er als auch viele andere der Meinung waren, dass sie stattfinden müssten.
    Kurz gesagt, er würde zum Kämpfer werden. Er würde den einzigen, aber so schweren Schritt über die Grenze vom Träumer zum Tatmenschen machen. Gaotona erkannte es in diesen Seiten.
    Er stellte fest, dass er weinte.
    Er weinte nicht um die Zukunft oder um den Kaiser. Es waren die Tränen eines Mannes, der vor sich ein Meisterwerk sah. Wahre Kunst war mehr als Schönheit; und sie war mehr als bloße Technik. Sie war nicht nur Nachahmung.
    Sie war Kühnheit, Kontrast, Feinheit. In diesem Buch hatte Gaotona ein seltenes Werk gefunden, das dem der genialsten Maler, Bildhauer und Dichter aller Zeiten ebenbürtig war.
    Es war das größte Kunstwerk, das er je betrachtet hatte.
    Fast während der ganzen Nacht hielt Gaotona das Buch ehrfürchtig in den Händen. Es war die Schöpfung von vielen Monaten fiebriger, intensiver künstlerischer Transzendenz – erzwungen durch äußeren Druck, aber ausgesandt wie Atem, der bis kurz vor dem Ersticken zurückgehalten worden war. Roh und doch poliert. Kühn, aber genau berechnet.
    Ehrfurchtgebietend, aber unsichtbar.
    Und so musste es bleiben. Wenn jemand herausfand, was Shai getan hatte, würde der Kaiser stürzen. Es würde das ganze Reich in seinen Grundfesten erschüttern. Niemand durfte erfahren, dass Ashravans Entscheidung, endlich zu einem großen Herrscher zu werden, durch Worte zustande gekommen war, die eine Blasphemikerin in seine Seele eingeschrieben hatte.
    Als der Morgen anbrach, stand Gaotona langsam und unbeholfen vor seinem Kamin auf. Er packte das Buch, dieses beispiellose Kunstwerk, und streckte

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