Die Seele des Königs (German Edition)
Ich hob eine Braue. Es war die Darstellung einer Felsenküste; einige Flechten hingen an einem Stein, der in das Meer hineinragte.
» Nichts auf der Rückseite«, sagte ich, als Tobias und Ivy mir über die Schulter blickten. » Sonst ist gar nichts in dem Umschlag.«
» Ich wette, das ist wieder von jemandem, der ein Interview zu bekommen versucht«, meinte Ivy. » Es ist immerhin ein besserer Ansatz als der des Jungen.«
» Es sieht nicht nach etwas Besonderem aus«, sagte J. C., der sich neben Ivy drängte, die ihn dafür in die Schulter stieß. » Felsen. Bäume. Langweilig.«
» Ich weiß nicht …«, meinte ich. » Da steckt mehr dahinter. Tobias?«
Tobias nahm die Fotografie an sich. Zumindest sah ich das. Vermutlich hatte ich das Foto noch in der Hand, aber ich spürte es dort nicht mehr, während ich sah, wie Tobias es betrachtete. Es ist seltsam, wie der Verstand die Wahrnehmung zu verändern vermag.
Tobias betrachtete das Bild lange. J. C. schob den Sicherheitsbügel seiner Pistole hin und her.
» Redest du nicht andauernd darüber, wie wichtig das Sichern von Waffen ist?«, zischte Ivy ihn an.
» Alles ist sicher«, antwortete er. » Der Lauf zeigt auf niemanden. Außerdem habe ich die vollkommene Kontrolle über jeden Muskel meines Körpers. Ich könnte …«
» Still, ihr beiden«, sagte Tobias und hielt sich das Bild näher vor die Augen. » Mein Gott …«
» Bitte sprich den Namen Gottes nicht so leichtfertig aus«, sagte Ivy.
J. C. schnaubte verächtlich.
» Stephen«, sagte Tobias. » Zum Computer.«
Ich ging mit ihm zum Rechner im Wohnzimmer, setzte mich davor, und Tobias beugte sich über meine Schulter. » Such nach der Einsamen Zypresse.«
Ich tat es und klickte nach Bildern. Ein Dutzend Schnappschüsse desselben Felsens erschienen auf dem Bildschirm, aber auf allen wuchs ein größerer Baum. Der Baum auf diesen Fotos war ausgewachsen; er sah uralt aus.
» Na toll«, meinte J. C. » Immer noch nur Bäume. Immer noch nur Felsen. Immer noch langweilig.«
» Das ist die Einsame Zypresse, J. C.«, erklärte Tobias. » Sie ist berühmt, und angeblich ist sie mindestens zweihundertfünfzig Jahre alt.«
» Na und?«, fragte Ivy.
Ich hielt das Foto hoch, das mir zugeschickt worden war. » Hier ist sie höchstens zehn Jahre alt.«
» Vielleicht sogar noch jünger«, sagte Tobias.
» Wenn dieses Foto also echt sein sollte«, meinte ich, » dann müsste es Mitte oder Ende des 17. Jahrhunderts aufgenommen worden sein. Jahrzehnte vor der Erfindung des Fotoapparats.«
» Es ist also offensichtlich eine Fälschung«, sagte Ivy. » Ich verstehe nicht, warum ihr beide euch deswegen Gedanken macht.«
Tobias und ich gingen gerade einen Korridor in meinem Haus entlang. Das Foto war mir vor zwei Tagen zugeschickt worden, aber ich konnte es einfach nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich trug es in der Tasche meines Jacketts mit mir herum.
» Ein Scherz wäre die rationalste Erklärung, Stephen«, sagte Tobias.
» Armando glaubt, dass es echt ist«, wandte ich ein.
» Armando ist ein vollkommener Narr«, erwiderte Ivy. Heute trug sie einen grauen Straßenanzug.
» Stimmt«, sagte ich und hob die Hand wieder an die Tasche in meinem Jackett. Es war nicht schwierig, ein solches Foto zu bearbeiten. Jedes Kind konnte mit einem Photoshop-Programm realistische Fälschungen herstellen.
Armando hatte es durch einige bessere Programme gejagt, es gründlich und auf vielen Ebenen untersucht und eine Menge damit gemacht, was ich mit meinem beschränkten technischen Verständnis nicht begriff, aber er gab zu, dass all das nicht viel aussagte. Ein begabter Künstler könnte alle Tests, die Armando vorgenommen hatte, unterlaufen.
Warum also beschäftigte mich dieses Foto so sehr?
» Das riecht danach, dass irgendjemand irgendetwas beweisen will«, sagte ich. » Es gibt viele Bäume, die älter als die Einsame Zypresse sind, aber nur wenige befinden sich in einer so unverwechselbaren Umgebung. Dieses Foto soll sofort erkennbar sein – zumindest für jemanden, der gute Geschichtskenntnisse besitzt.«
» Das spricht doch umso mehr für einen Scherz, oder?«, meinte Ivy.
» Vielleicht.«
Ich lief zurück in die andere Richtung; meine Aspekte verstummten. Schließlich hörte ich, wie unten eine Tür geschlossen wurde. Ich eilte zur hinunterführenden Treppe.
» Master?«, fragte Wilson, der soeben die Stufen hinaufkletterte.
» Wilson! Ist Post gekommen?«
Er blieb auf dem oberen Treppenabsatz stehen und
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