Die Seele des Königs (German Edition)
hatte er diese Erwartungen auch an sich selbst gestellt.
» Du warst ein seltsames Kind«, sagte sie. » So ernst. So pflichtbewusst. So konzentriert. Manchmal habe ich mich weniger wie deine Mutter gefühlt, sondern eher wie eine … wie eine Wirtsfrau. Sogar als du noch sehr jung warst.«
Es bereitete ihm Unbehagen, wenn sie so mit ihm redete. » Du sprichst nie von Vater. War er genauso?«
» Ich habe ihn nicht lange genug gekannt«, sagte sie, und Sehnsucht lag in ihrem Blick. » Ist das nicht merkwürdig? Als wir uns begegnet sind, war es wie ein Traum, und nach weniger als einem Monat waren wir verheiratet. Und dann war er weg. Er hat mich mit dir allein gelassen und ist den Weg des Opfers gegangen.«
Sie war hierher nach Drems Rachen gekommen, weil sie sich von ihrem alten Leben hatte befreien wollen. Sie hatte Verwandte hier, aber sie hatte sich nie richtig einfügen können – genauso wenig wie er selbst, obwohl die Dorfbewohner angeblich stolz waren, dass sie das nächste Opfer erziehen und ausbilden durften.
» Er hatte einen Sinn für das Notwendige«, sagte sie. » Genau wie du.«
» Ich wünschte, ich hätte ihn noch«, erwiderte Siris. Er schaute hinunter auf seinen leeren Teller, seufzte und stand auf. » Ich hatte gehofft, dass ich jetzt … endlich … ich selbst sein könnte. Wer immer das sein mag.«
» Musst du wirklich gehen, Siris?«, fragte sie. » Du könntest bleiben und dich hier verstecken. Wir könnten es schaffen.«
» Nein«, sagte er. Ich will dich nicht in Gefahr bringen .
» Ich vermute, ich kann dich nicht umstimmen.« Sie schien sehr unglücklich darüber zu sein. » Aber wohin willst du denn gehen?«
» Ich weiß es nicht«, sagte er und nahm seinen Mantel, in den noch immer seine Rüstung eingewickelt war.
» Bist du wenigstens bereit, einen Rat anzunehmen?«
» Von dir?«, fragte er. » Immer.«
» Ich wünschte bei den Lichtern des Himmels, dass du diesen Pfad nicht beschritten hättest, mein Sohn. Aber du hast es getan.«
» Es blieb mir keine andere Wahl.«
» Das ist Dummheit«, sagte sie. » Man hat immer eine Wahl.«
Aber er war weiterhin dieser Ansicht, ob sie nun dumm war oder nicht.
» Du hast diesen Weg beschritten«, fuhr sie fort, » und jetzt musst du das beenden, was du angefangen hast.«
» Ich habe es schon beendet«, klagte er. » Ich habe den Gottkönig getötet! Was könnten sie denn sonst noch von mir verlangen?«
» Es geht nicht mehr darum, was die Leute von dir verlangen, mein Sohn«, sagte sie, streckte den Arm über den Tisch und ergriff seine Hand. » Es tut mir leid«, sagte sie etwas sanfter. » Das hast du wirklich nicht verdient.«
Er senkte den Blick.
» Verzweifle nicht.« Sie stand auf und ergriff seine Arme. » Du hast etwas Wunderbares getan, Siris. Etwas, das alle für unmöglich gehalten haben. Du hast die Träume deiner Vorväter erfüllt und ihren Tod gerächt.« Sie ließ ihn los und sah auf zu ihm. » Erinnerst du dich an das, worüber wir am Abend vor deinem Aufbruch gesprochen haben?«
» Über die Ehre.«
» Ich habe dir gesagt, mein Sohn, wenn du etwas tust, dann tue es mit ganzem Herzen«, meinte sie. » Und jetzt hast du etwas, was du vorher nicht hattest. Hoffnung. Du hast einen von ihnen besiegt. Sie können überwunden werden.«
Sie sah ihm tief in die Augen, und er nickte bedächtig.
» Gut«, sagte sie und drückte noch einmal seine Arme. » Ich werde dir für die Reise etwas zu essen einpacken.«
Er sah ihr nach, als sie davonhumpelte. Sie hat recht , dachte er. Ich habe schon einmal das Unmögliche erreicht. Und ich kann es wieder erreichen.
Doch diesmal würde er niemanden jagen, um ihn zu töten. Diesmal würde es eine persönlichere Suche sein. Irgendwie würde er es schaffen, das Einzige zu finden, das er schon immer hatte erreichen wollen, ohne es zu wissen.
Er würde die Freiheit finden.
2
D er Gottkönig erwachte mit einem tiefen Keuchen. Es war das unbeherrschte Keuchen von jemandem, der zu lange den Atem angehalten hatte – das Keuchen eines Toten, der ins Leben zurückkehrte, mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen. Es war ein erschreckendes und gleichzeitig beglückendes Gefühl.
Es war ein Gefühl, das er nie wieder hatte verspüren wollen.
Um ihn herum flossen die heiteren Geräusche seines Siebenten Tempels der Reinkarnation. Der leichte Regen draußen, der auf die Blätter und das stille Hausdach traf, machte die Luft kühl und feucht. Einige leise Piepser drangen
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