Die Seele des Ozeans (German Edition)
hatte ihm die Hände auf die Knie gelegt und musterte ihn sorgenvoll. Anscheinend waren mehr als ein paar Minuten vergangen, denn draußen waren die Wolken aufgebrochen und ließen goldenes Abendlicht durch die Fenster scheinen.
„Fae?“, mutmaßte Henry.
„Sie würde nicht klingeln“, widersprach Alexander. „Es sei denn, sie hat den Schlüssel vergessen.
Ukulele deutete auf den leeren Haken neben der Tür. „Hat sie nicht.“
Alexander griff ihm unter die Arme und half ihm auf. „Geh besser ins Schlafzimmer, Kjell. Leg dich hin und ruh dich aus, okay?“
Ausruhen? Warum? Nein, nicht solange Fae verschwunden war. Doch weder sein Körper noch sein Geist gehorchten seinem Willen. Kraftlos ließ er sich nach nebenan führen, sank auf das Bett und wurde in watteweiche Stille gehüllt. Obwohl er Luft atmete und in einem Haus war, fühlte er sich, als läge er am Grund der Tiefsee. Abgeschnitten von allem, was über ihm lag, gefesselt von zeitloser Dunkelheit und tiefem Schweigen.
Lauf weg! Das Meer ist ganz nah.
Du weißt, dass das Schicksal immer den vorbestimmten Weg nimmt. Immer. Egal was du tust.
Stimmen erklangen in der Ferne. Es erforderte eine schier überwältigende Anstrengung, sich auf sie zu konzentrieren.
„Wer sind Sie?“, fragte Alexander. „Was wollen Sie?“
„Ich suche jemanden“, antwortete eine müde, krächzende Stimme. „Bestimmt können Sie mir weiterhelfen.“
„Das glaube ich kaum.“
„Silbernes Haar, türkisfarbene Augen wie Kristalle. Niemand, der bei Verstand ist, würde ihn auch nur eine Sekunde lang für einen Menschen halten. Ich sehe, Sie verstehen mich.“
Kjell fuhr im Bett auf. Hatte er geträumt? War er kurz eingenickt? Nein, die Stimmen redeten weiter. Angst prickelte in seinem Nacken. Seine eigene, aber vor allem die der Männer, die verzweifelt versuchten, zu lügen. Ihre Stimmen wehten wie blasse Fetzen durcheinander. Es dauerte einige Atemzüge, bis er sie wieder verstand.
„Verschwinden Sie“, rief Alexander. „Sie sind ja nicht ganz bei Trost.“
„Natürlich bin ich bei Trost. Im Gegensatz zu euch, denn ihr glaubt offenbar, euren Freund zu einem Menschen machen zu können. Seht es ein, ihr spielt mit dem Feuer. Früher oder später verbrennt es euch.“
„Verschwinden Sie! Raus aus meinem Haus!“
„Ich gehe nicht ohne ihn.“
„Raus! Ukulele, ruf die Polizei.“
„Das wäre ein Fehler.“ So gefasst die Stimme des alten Mannes auch klingen mochte, Kjell hörte die Panik heraus. Wer immer es war, ihm lief die Zeit davon. Und zwar schnell. „Es ist noch eine Stunde bis zur Flut, nicht wahr? Wir sollten uns besser beeilen, sonst siehst du deine Schwester nie wieder.“
Fae!
Kjell sprang auf, stürzte durch die Tür ins Wohnzimmer, war mit vier Schritten bei dem alten Mann und warf ihn gegen die Wand. Ein erschrockenes Keuchen rasselte in der faltigen Kehle. Die Augen des Alten weiteten sich, während er ihn mit ekelhafter Gier und Verzückung anglotzte.
„Oh!“ Ein Sabberfaden lief aus seinem Mundwinkel. „Oh, endlich, endlich! Du bist es!“
„Wo ist sie?“ Mit jedem Wort bohrte er seinen Blick tiefer in den seines Gegenübers. Alle Macht, die die Seele ihm je geschenkt hatte, lag in seiner Stimme und in seiner Berührung. Aber der Alte besaß kein Seelenlicht. Keine Wärme, die er ihm nehmen konnte. Der Körper vor ihm war ein harter, undurchdringlicher Panzer aus ausgedörrtem Fleisch.
Kjell spürte, wie Alexander, Henry und Ukulele unter der Wirkung seiner Stimme zerflossen. Matt sanken sie in sich zusammen, die Augen in träumerischer, willenloser Ferne verloren. Niemals zuvor hatte er dem, was in ihm ruhte, die Zügel frei gelassen. Nie war die Macht seiner Stimme so ungehindert aus ihm geflossen. Es geschah, als sei es sein natürlichster, reinster Trieb. Kjell wusste nicht, was über seine Lippen kam. Es schien ein kaum hörbares Summen zu sein, ein Vibrieren, das durch seinen gesamten Körper floss und ihn schwerelos machte. Die drei Männer verloren auf einen Schlag ihren Willen und ihre Kraft, doch der Greis blickte ungerührt zu ihm auf.
„Ich bin alt“, säuselte er. „Ich hatte so viel Zeit, mich vor dem zu schützen, was in meinen eigenen Adern fließt. Es ist nicht so stark wie die Magie in dir. Bei Weitem nicht so stark.“ Er griff nach vorn und legte eine Hand auf Kjells Brust. Zuerst spürte er nur einen feinen Stich, doch dann, als der Alte plötzlich zudrückte, verwandelte sich das unbedeutende
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