Die Seele des Ozeans (German Edition)
dem verrosteten, dunkelblauen Wagen, der vor dem Haus stand, schloss auf und half Kjell einzusteigen. „Ich hoffe, das glaubst du mir.“
„Du hast den Narwal getötet.“ Er redete wie im Schlaf. Matt sank sein Kopf gegen die Scheibe. „Du hast viele Wale getötet. Niemand wird dir verzeihen.“
„Ich habe sie gejagt, weil es das Einzige war, was ich konnte. Die Götter haben mich so erschaffen.“
Kjell schloss die Augen. Er hatte das helle Aufblitzen einer Messerklinge gesehen, und er wusste, dass die Waffe, die zum zweiten Mal sein Fleisch zerteilen würde, unter dem Jackett des Alten steckte. So nah, dass er nur den Arm ausstrecken und danach greifen musste. Aber sein Arm gehorchte ihm nicht mehr, hing nur nutzlos an seinem Körper.
Die Flut kam, und Fae war an einen Stein gefesselt. Sie würde ertrinken. Langsam und qualvoll.
„Schneller“, brachte er hervor. „Wenn ihr etwas geschieht, werde ich zusehen, wie du zu meinen Füßen stirbst.“
„Ich kann nicht sterben.“ Der Alte lenkte den Wagen auf die Straße und gab Gas. „Das sagte ich doch schon.“
„Oh doch, du kannst. Der Narwal war mächtiger und älter als du, und er ist gestorben.“ Ihm war, als spräche ein anderer für ihn. „Nichts kann unsterblich sein. Nichts und niemand.“
„Ich glaube, der Narwal ist gestorben, weil er sterben wollte.“ Breac drehte sich zu ihm um und lächelte. „Es war sein freier Wille, er opferte sich aus freien Stücken. Denn auf ihn wartet nicht das, was auf mich wartet.“
Summendes Schweigen entstand. Häuser, Wiesen und die graue Fläche des zurückkehrenden Meeres rauschten hinter der dreckigen Scheibe an ihm vorbei. Kjell schloss die Augen. Fae war in seinem Geist, er spürte, wie sich die zarten Fäden ihrer Nähe um ihn spannen. Filigran und verletzlich. Sie hatte solche Angst.
Ich komme. Ich bin gleich bei dir.
Panik antwortete ihm. Sie spürte seine Gedanken, aber sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Kjell atmete tief ein und beschwor alles Mächtige und Heilige, das er je in seinem Leben erblickt oder gefühlt hatte.
Langsam kehrte seine Kraft zurück. Gedanken und Gefühle wurden klarer. Ja, er konnte wieder den Arm heben, auch wenn er sich noch taub anfühlte. Aber was nützte ihm das? Die Zeit lief ihm davon, er musste Fae finden. Und dazu brauchte er die Hilfe des Alten.
„Übrigens, mein Name ist Breac.“ Ein röchelndes Lachen erklang. „Nur damit du weißt, wer dein Schicksal besiegelt.“
Der Wagen raste an grasbewachsenen Hügeln und Wiesen vorbei, die friedlich im Abendlicht schimmerten. Über dem Meer ballten sich neue Regenwolken zusammen, aber noch funkelte das Licht der untergehenden Sonne auf dem nassen, tropfenden, dampfenden Land. Kjell roch tausend Düfte durch das Gefängnis des Wagens.
Leise begann er zu summen, holte die Macht aus seinen Tiefen hervor, behutsam und langsam, ließ sie in seine Stimme strömen, die wie von selbst über seine Lippen kam. Er spürte wieder das Vibrieren in seinem Körper, das Leuchten der Kraft, deren feines Gespinst sich um alles legte, was hören und fühlen konnte.
Wo ist sie? Zeig sie mir. Und dann verschwinde.
Der Alte gab ein leises Geräusch von sich. Wirkte es? Oder lachte er nur? Kjell ließ die Klänge weiter strömen, webte das Gespinst enger und fester, bis Breac den Wagen am Rand eines unbefestigten Weges anhielt. Die Straße hatten sie verlassen, ohne dass er es wahrgenommen hatte, links erstreckte sich ein breiter, felsengesprenkelter Strand. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, aber Faes Angst leuchtete hell und panisch wie ein loderndes Feuer. Sie musste hier irgendwo sein! Ganz nah!
Kjell riss die Tür auf und rannte los. Das Meer leckte bereits an den Felsen und strömte schnell heran, so viel schneller als jemals zuvor. Faes Angst verwandelte sich in Panik. Sie kämpfte um ihr Leben. Und dann hörte er ihre Schreie.
Er rannte noch schneller. Stolperte über einen glitschigen Stein, stürzte und rappelte sich wieder auf, während das schreckliche Wimmern und die Angst alles war, das er wahrnahm.
Doch dann schrie Fae nicht mehr.
Kjell blieb stehen, versuchte herauszufinden, in welche Richtung er laufen musste. Überall Felsen, überall Panik! Alles verwandelte sich in ein haltloses Chaos, das seine Sinne überforderte. Und diese Stille hinter dem Glucksen und Rauschen des zurückkehrenden Wassers war noch schrecklicher als das Wimmern zuvor …
„Fae!“ Seine Stimme klang hässlich
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