Die Seele des Ozeans
Fensterglas, seine Miene war reglos. Nur der Körper bebte unter lautlosem Weinen.
„Du bist alles, was mir bleibt. Ich liebe dich, hörst du? Trotz allem, was ich zu dir gesagt habe. Ich liebe dich so sehr, wie ich Fiona geliebt habe.“
Würde dieser Junge doch nur irgendetwas sagen oder irgendetwas tun. Aber diesen Gefallen tat Kjell ihm nicht. Recht so, er hatte es nicht anders verdient. Angus hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und ging aus dem Zimmer.
Diesmal schloss er nicht ab. Er ließ die Tür einfach offen, lehnte sie nur an und ging hinunter ins Schlafzimmer.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sich ins Bett legte. Was hatte er nur getan? Erst jetzt wurde ihm klar, dass er die ganze Zeit im Schlafanzug draußen herumgelaufen war. Ihm war kalt, sein Körper schrie nach Whiskey. Aber diesmal verwehrte er sich die Erlösung. Fiona hatte dieses Zeug gehasst, und sie würde ihn hassen, wenn sie ihn so sehen könnte.
Hinter den schmutzigen Gardinen, die das letzte Mal gewaschen worden waren, als sie noch gelebt hatte, zeichnete sich das grüne Band der Dämmerung ab. Ein neuer Tag.
Wozu?
Angus hörte die leisen Schritte, das Knarzen der Stufen und schließlich das Rütteln an der Haustür. Er musste sie für ihn öffnen. Musste seinen Sohn endlich frei lassen. Er hatte kein Recht, ihn einzusperren. Wenn ihm nur noch wenige Monate zu leben blieben – und er flehte darum, dass es so war –, dann war es an der Zeit, wenigstens einen kleinen Teil der Schuld zu begleichen. Kalt schmiegten sich die Schlüssel an seine Brust. Es wäre so einfach. Genauso einfach, wie alles zu beenden. Heute, in dieser Nacht. Wozu noch endlose Monate warten, bevor der Herr sich seiner erbarmte und ihn endlich wieder mit Fiona vereinte?
Angus kämpfte sich auf die Beine und schlurfte hinaus. Das Rütteln wurde energischer, als er mit vernehmlichen Schritten den Flur hinunterging. Er hörte Kjells angestrengte Laute, hörte ihn sogar fluchen.
„Schon gut“, murmelte er. „Schon gut. Ich lasse dich gehen.“
Plötzlich erklang ein so lautes Klirren, dass Angus fast der Schlag traf.
Das Fenster! Dieser kleine Bastard hatte das Fenster zerschlagen!
Er fegte um die Ecke, sah Kjell, der ein Holzkästchen in der erhobenen Hand hielt, und rannte auf ihn zu. Auf den Dielen funkelten Scherben.
„Was tust du da?“, brüllte Angus. „Leg das sofort hin!“
Er kam Kjell zuvor, indem er ihm das Kästchen aus der Hand riss, es auf den Boden schmetterte und seine rechte Hand zur Faust ballte. Aber diesmal kam er nicht dazu, sie in das Gesicht des kleinen Ungeheuers zu schlagen, denn der Junge fing sie auf, schloss seine Finger darum und zerquetschte mit einem mühelosen Zucken Angus’ Hand.
Der Schmerz war so groß, dass er keinen Ton hervorbrachte.
Er sackte in die Knie, starrte auf seine zerstörte Hand und sah, wie sich von außen her ein schwarzer Schleier über sein Blickfeld zog. Blut tropfte auf die Dielen. Mit lautem Krachen zersplitterte das Holz des Fensterladens unter Kjells Faustschlag, als bestünde es aus brüchigem Pergament.
Dann wurde alles schwarz.
Als Angus aus seiner Ohnmacht erwachte, fegte der Wind durch das Haus. Aus dem blutigen Klumpen, der einmal seine Hand gewesen war, ragten weiße Knochensplitter.
Der Junge war verschwunden.
Er achtete nicht auf den Schmerz, stemmte sich hoch und öffnete die Schlösser an der Haustür. Es war noch nicht hell, er konnte nicht lange besinnungslos gewesen sein. Angus rannte, wie er seit Fionas Verschwinden nicht mehr gerannt war.
„Nein!“, keuchte er. „Nein! Nimm ihn mir nicht! Nicht auch noch ihn!“
Doch dem Meer war sein Flehen gleichgültig. Als er den Hang zum Strand hinablief, sah er es.
Das Leuchten.
Schöner und mächtiger und gespenstischer als damals. Es tanzte um einen blassen Körper herum, der bis zur Hüfte im Wasser stand. Es hüllte ihn ein, ließ ihn strahlen, kroch an ihm empor, tränkte ihn ganz und gar in einem Licht, das nichts anderes war als die geballte Macht der Schöpfung.
Angus’ Beine gaben unter ihm nach. Er brach zusammen, krallte seine Finger in den Sand und schrie. Er schrie alles hinaus, was sich im Laufe der Jahre in ihm aufgestaut hatte. All den Hass, all die Verachtung gegen sich selbst und diese gewaltige, betäubende Angst.
Er brüllte die Schmerzen hinaus, die er Kjell und sich selbst angetan hatte, und alles strömte aus ihm heraus, raubte ihm den Atem und saugte ihm den letzten Rest Hoffnung aus.
Der
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