Die Seele des Ozeans
ihrem Körper einen Schlag, der ihr fast das Bewusstsein nahm. Fast, denn wie durch einen Schleier spürte sie Arme, die sich um sie schlossen. Jemand zog an ihr und drängte sie weg von den Felsen. Doch es war zu spät. Eine gewaltige Welle schleuderte sie nach vorne. Fae spürte einen Ruck und hörte das widerwärtige Geräusch eines auf die Felsen prallenden Körpers.
Es war nicht ihrer.
Glatte, eiskalte Haut presste sich an sie. Hände umfassten ihre Taille. Nur flüchtig sah sie ein Gesicht, und es war so hell, dass es aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Dann hüllten sich ihre Sinne in Schwärze. Losgelöst von ihrem Körper spürte Fae, wie das Meer sie hin und her warf. Eine uralte Macht spielte mit ihr, wie eine Katze mit der Maus.
Und dann begann sie zu träumen.
Sie lag in einem Bett aus Sand. Die Klippen ragten über ihr auf, überspannt von einem brodelnden Sturmhimmel, der alle Sterne verschluckt hatte. Neben ihr kauerte ein Mann – nein, ein Wesen –, so fremdartig und strahlend hell, dass es ihr den Atem verschlug. Augen von kristallhellem Türkis blickten auf sie herab. Seine Haut leuchtete bläulichweiß, Tropfen lösten sich von silbernen Haaren und fielen auf sie hinab.
Wie nasse Schlangen wanden sich die Strähnen um seine Schultern und schienen sich zu bewegen. Nicht wie Haare, sondern wie etwas Lebendiges, das sein frostiges Gesicht umrahmte. Aus einer Wunde an seiner Schulter liefen Rinnsale über seinen Arm. Fae blinzelte noch einmal, denn sie sah neben dem Blut leuchtend weiße Sprenkel auf seiner Brust und auf seinen Armen, die zu Streifen zerschmolzen. Zwischen seinen Fingern spannten sich Schwimmhäute, Mondlicht fing sich in scharfen, kristallklaren Nägeln. Alles an diesem Wesen war strahlend hell. Es war, als blicke sie nicht auf ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, sondern in ein gleißendes Licht.
Unsinn. Nichts als Traumillusionen. Von ihrem Gehirn ausgespuckte Halluzinationen. Sie blinzelte noch einmal, ohne dass das Wesen verschwand. Ein ungläubiger Laut kam über ihre Lippen.
Er hatte sie gerettet.
Er hatte sich an die Felsen werfen lassen, um ihren Körper durch seinen zu schützen. Fae sah an ihm herunter. Kein Fischkörper, kein Gewand aus Muscheln, sondern schlanke Menschenbeine mit weißer Haut.
Faes Blick heftete sich wieder auf sein Gesicht. Nie hatte sie etwas Schöneres gesehen als den Glanz dieser türkisfarbenen, silbergesprenkelten Augen. Man versank in ihnen wie in Seen aus flüssigem Kristall.
Der Fremde fuhr über ihr Haar, streichelte ihre Stirn und sprach mit ihr. Seine Stimme war das Echo eines wunderbaren Elysiums. Ein Versprechen von Vollkommenheit und Erlösung. Fae verstand kein Wort, doch sie spürte, wie diese Stimme sie emporhob und hinauf in warme Glückseligkeit trug. Endlich. Alles war zu Ende. Alles war wunderschön.
„Fae? Hey, sag was! Fae, hörst du mich?“
Sie zuckte hoch und fiel augenblicklich wieder zurück, als hätte sie eine Keule getroffen. Verdammt, was war hier los? Erinnerungen umflatterten sie wie nebulöse Vögel. Sie hatte gedacht, zu sterben, stattdessen …
Fae wurde von starken Armen aufgerichtet. Der Mann war verschwunden. Alexander, Henry und Ukulele hatten seine Stelle eingenommen und starrten sie mit offen stehenden Mündern an. Alle drei trugen noch ihre Schlafanzüge. Kariertes Flanell. Sie sahen aus wie drei kleine, verschreckte Jungen.
„Fae“, flüsterte ihr Bruder, das Gesicht weiß wie Kalk. „Du hast gerade versucht, dich umzubringen.“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nein? Was war es dann?“
„Ich …“ Sie würgte. Ihr Hals kratzte und brannte vom geschluckten Salzwasser. „Ich musste … äh … schwimmen gehen.“
„Schwimmen gehen? Morgens um halb drei?“
Alexander und Ukulele sackten in sich zusammen wie Puppen, denen man die Fäden abgeschnitten hatte. Henry verschwand kopfschüttelnd in der Dunkelheit. Erst jetzt bemerkte Fae, dass sich direkt über ihnen ein Unwetter zusammenbraute. Die Luft roch nach Elektrizität und Schwefel. Kiefernnadeln wirbelten durch die Finsternis, das Meer kochte.
Diese bläulichweiße Haut.
Dieses Gesicht, wie aus Träumen gemacht.
Viel zu seltsam, um wahr zu sein.
„Was hast du bloß angestellt?“ Alexander betastete sie hektisch. Seine Dreadlocks streiften ihre Arme wie nasse, struppige Schlangen. „Du bist verletzt.“
„Nein.“ Fae stemmte sich hoch. Für einen Augenblick kämpfte sich der Mond durch die bauschigen
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