Die Seele des Ozeans
das Rauschen ihrer Flügel. Alles würde sie mitnehmen, wohin auch immer. Und wenn sie nur Dunkelheit fand, hatte sie wenigstens ihre Erinnerungen.
Der ersten Bucht folgte eine zweite, dann eine dritte. Die Klippen flachten ab, wurden mit jedem Mal, da sie sie erneut erklomm, ein wenig sanfter. An jenem Punkt, wo kleine und große Steinbrocken zu einem Berg aufgeschichtet waren und Fae bereits ihr Haus sehen konnte, standen einige verwitterte Heiligenfiguren und blickten auf das Meer hinaus.
Zu den Füßen der Figuren lag ein Sammelsurium an Kleinoden. Münzen, Fotos, Rosenkränze, kleine Medaillons, Muscheln, Schneckenhäuser oder Kinderspielzeug. Fae kniete nieder und musterte jedes einzelne der dargebrachten Geschenke. Wie viele von den Menschen auf den Fotos waren bereits tot? Hatten Verwandte für ihre Genesung gebetet? Um irgendein Wunder, das sie retten sollte? Es war totenstill, das Meer lag spiegelglatt im Licht des Nachmittags. Kein Laut war zu hören, nicht einmal das Zwitschern eines Vogels.
Die düstere Beklemmung, die Fae im verfallenen Haus schier den Atem geraubt hatte, verwandelte sich angesichts der Figuren und der Opfergaben in eine traurige Ergriffenheit. Die Marienstatue lächelte tröstend. Auf ihren anmutig gefalteten Händen funkelten Wassertropfen.
Werde ich jetzt etwa gläubig?
Na ja, ich glaube schon an etwas. An die Schöpfung, die etwas so Unglaubliches wie das Meer erschaffen hat. Und an das Schicksal, auch wenn es ein Miststück ist.
Fae griff in ihre Hosentasche und förderte die zerknautschte Verpackung einer Schokoladentafel zutage. Skelligs Chocolate . Ihre Lieblingssorte. Innerhalb weniger Tage hatte sie ungefähr zwei Dutzend davon in sich hineingestopft. Vielleicht ein klägliches Geschenk, aber immerhin verschaffte ihr das Zeug einen kurzen Moment des Glücks. Kein höheres Wesen konnte verlangen, dass sie das Papier mit Inhalt opferte.
Schulterzuckend steckte sie es in eine der Steinnischen.
Ich bin nicht abergläubisch, sagte Henry gerne. Das bringt Unglück.
Ihre Knie knirschten wie die einer alten Frau, als sie aufstand und ihren Pullover glatt strich. Unglück? Pustekuchen. Ab einem gewissen Zeitpunkt war sowieso alles egal. Was man tat oder nicht tat. Was man glaubte oder nicht glaubte. Sie würde bald herausfinden, was der Wahrheit entsprach.
Faes Blick glitt noch einmal über das Meer und den Strand – um an einer hellen Gestalt hängenzubleiben, die hinter einem Felsen kauerte. War das etwa …?
Atemlos starrte sie in die Tiefe hinab. Der helle Schemen bewegte sich, halb verborgen von dem tangbedeckten Stein, richtete sich ein wenig auf und wich zugleich zur Seite.
Kjell! Bleib da! Bleib genau da stehen!
Fae unterdrückte den Impuls, einfach loszurennen. Langsam, den Blick fest auf seine Gestalt gerichtet, ging sie den Hang hinab zur Bucht.
Rühr dich ja nicht vom Fleck!
Kjell blickte ihr entgegen, hinter den Felsen geduckt wie ein fluchtbereites Tier. Fae sah keine Kleidung. War er etwa nackt? Genauso wie gestern, bevor er die Kleidung von der Leine genommen hatte?
Als sie sich dem Felsen bis auf fünf Schritte genähert hatte, fuhr er unvermittelt hoch und wich in Richtung Wasser zurück. Sein Körper bestand aus zitternder Anspannung. Tatsächlich, er trug kein einziges Kleidungsstück. Hier draußen im hellen Sonnenschein leuchtete seine Haut so weiß, dass es wehtat, ihn anzusehen. Solche Helligkeit war nicht mit fehlender Sonneneinstrahlung zu erklären. Wäre er einfach nur blass gewesen, hätte sie von seiner Vorliebe für Schatten und Dunkelheit ausgehen können, aber dieses Weiß leuchtete, als strahle ein gleißendes Licht in seinem Inneren.
„Schon gut.“ Fae hob beide Arme und blieb stehen. „Ich will nur mit dir reden.“
Sein misstrauischer Blick ging ihr durch Mark und Bein. Wenn diese
Augen und diese Haut keine Ausgeburt ihres Tumors waren, wenn sie tatsächlich echt waren … wie zum Teufel war das möglich? Warum sah er so aus, wie er aussah?
„Ich suche nur …“ Fae kramte in ihrem Gehirn nach Worten. All die Seltsamkeit, die sich in diesem Mann konzentrierte, verknotete ihre Gedanken und ihre Zunge. „Ich will nur wissen, wer du bist. Und warum du … warum du so seltsam bist.“
Kjells Blick huschte zwischen ihr und dem Wasser hin und her. Er duckte sich, presste die Lippen fest aufeinander und schien verzweifelt darum bemüht, eine Entscheidung zu treffen.
„Willst du wieder reinspringen und einfach verschwinden?“
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