Die Seelenjägerin - 1
unsichtbar gemacht. »Wahr ist, dass ihr Palast über dem Hafen von Sankara liegt. Das weiß ich, denn ich war selbst dort. Und dass sie Feste mit den ausgefallensten Darbietungen veranstaltet, zu denen nicht nur die Reichen und Vornehmen geladen werden, sondern jedermann, der ihr die Zeit vertreibt. Auch das kann ich bezeugen. Ob sie sich all die Männer auch in ihr Bett holt …« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß schon, wann eine Monarchin ernsthaft buhlt, und wann sie lediglich … Diplomatie betreibt?«
»Und ihre Macht?« Diesmal ließ Kamala die Worte aus einer anderen Ecke kommen und gab ihrer Stimme einen vertrauteren Klang, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. »Was kannst du uns darüber erzählen?«
»Was gibt es da zu sagen? Sie ist eine Hexe, und ihre Fähigkeiten sind weithin berühmt. Über Sankara ist nie eine Dürre gekommen, die sie nicht in Regen verwandelt hätte. Kein Heer hat je ihr Land belagert, ohne dass es von einer Katastrophe ereilt worden wäre, bevor die beiden Seiten aufeinandertrafen. Seuchen machen einen Bogen um ihre Stadt und meiden auch die Länder ihrer Verbündeten. Die Winde wehen so, wie es für die Kauffahrer in ihrem Hafen günstig ist. Kein Magister hat jemals prächtigere Feuerwerke geschaffen als sie … und ich habe viele gesehen.«
»Und doch stirbt sie nicht«, bemerkte Kamala leise mit ihrer falschen Stimme.
»Noch nicht, Kantele sei Dank.«
»Wie lange geht das schon?«
»Wer weiß?« Er lachte und fasste eine Hure unter dem Kinn. »Keine Frau verrät ihr wahres Alter.«
»Sie ist seit vierzig Jahren an der Macht«, schaltete sich der Rotschopf ein. »Und niemand weiß, wo sie vorher war.«
»Wahrscheinlich ist sie voll ausgewachsen einer Riesenmuschel entsprungen.« Der Eynkar lachte. »So machen es die Götter des Südens doch gerne?«
Vierzig Jahre!
Kamala fragte nicht weiter. Sie überließ die Männer ihrem betrunkenen Geschwätz, zog sich noch tiefer in die Schatten zurück und zischte leise vor sich hin. Vierzig Jahre! Angenommen, die Frau war kein Kind mehr gewesen, als sie den Thron bestieg – und sie musste zumindest volljährig gewesen sein, sonst hätten die Legenden diesen Umstand sicherlich für die Ewigkeit bewahrt –, dann hatte sie bereits eine ansehnliche Lebensspanne hinter sich, fast so viele Jahre, wie den Morati überhaupt beschieden waren. Und doch ging sie, wenn die Berichte stimmten, mit ihrer Macht noch freigebiger um als ein Magister.
Und wenn sie nun selbst ein Magister wäre? , überlegte sie. Oder wenn sie einen anderen Weg gefunden hätte, um als Frau zur Unsterblichkeit zu gelangen?
Eine dumpfe Kälte irgendwo in den Tiefen ihrer Seele erinnerte sie daran, welchen Preis sie selbst bezahlt hatte, um zu werden, was sie war. Wie mochte es sein, die Ewigkeit vor sich zu haben, ohne dafür eine endlose Reihe von Unschuldigen ermorden zu müssen? Wie in grellem Licht sah sie das Kind vor sich, das sie im Traum geschlachtet hatte, und eine Welle der Übelkeit führte ihr wieder einmal die Kosten für Mitgefühl und Menschlichkeit vor Augen.
Wage ja nicht zu bereuen, was du bist. Keinen Augenblick lang. Mitgefühl und Menschlichkeit sind der Macht, die dich am Leben erhält, ein Gräuel.
Sie schloss die Augen und suchte ihre Fassung wiederzufinden. In der Ferne wogte das Gemurmel der Kaufleute auf und ab, doch sie hörte es nicht. Sie versetzte sich zurück in den Wald zu Aethanus. Zurück an jenen ersten Tag, als sie zu ihm gekommen war, fest entschlossen, seine Schülerin zu werden, nicht willens, sich damit abzufinden, dass eine Frau kein Magister werden könne . Damals hatte sie geschworen, sich von nichts aufhalten zu lassen. Jetzt wies einiges darauf hin, dass eine andere Frau eine Lösung gefunden hatte – eine andere Antwort vielleicht, als Aethanus sie ihr gegeben hatte – und Kamala wusste, sie fände keine Ruhe, bis sie die Wahrheit kannte.
Als ihr Herz wieder ruhig schlug und die Übelkeit sich gelegt hatte, stand sie leise auf und verließ den Schankraum. Sie beschwor gerade so viel Macht, dass niemand sah, wie sich die Tür für sie öffnete, und dass auch niemand hörte, wie sie hinter ihr wieder ins Schloss fiel.
Das Wirtshaus stand an einem Berghang gegenüber von Bandoa. Die Ställe, in denen die Tiere der Gäste untergebracht wurden, die freien Flächen, wo Wagen und Zelte für die Nacht aufgestellt werden konnten, und die prosaischeren Einrichtungen, wie sie jeder Mensch braucht, befanden sich
Weitere Kostenlose Bücher