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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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drang mit jedem Atemzug bis in die Lungen. Er zog ein Tuch aus seiner Tasche und hielt es sich an Mund und Nase. Die Wache kehrte mit dem Krug zurück. Thomas nahm ihn, schickte den Soldaten fort und beugte sich herunter.
    »Es ist kein Gift«, sagte er.
    Boggis richtete sich unendlich langsam auf. Thomas hielt den Krug und Boggis trank, erst winzige Schlucke, dann etwas mehr.
    »Ich danke Ihnen, Sir.« Er konnte gerade einmal flüstern.
    Thomas tupfte Boggis das Gesicht mit seinem Tuch. »Wir wollen beten.« Er kniete sich zu ihm und fühlte, wie die Nässe durch den Mantel in das Beinkleid drang. Er sagte leise das Gebet. Es waren ein paar schlichte Worte. Boggis war zu schwach, um mitzutun. Er bewegte bloß die eingerissenen Lippen.

39. K APITEL ,
    worin die Liebe endlich siegt und ein Begnadeter
    vielleicht zu einem Engel wird
     
     
     
    Die Gegend um Asylum Whitefrairs, der alte Londoner Freibezirk unzähliger Gauner, Diebe und Verbrecher, war ein Gewirr von Häusern, Ställen und Remisen auf engstem Raum, um einen Klosterhof gruppiert. Whitefrairs garantierte Schutz vor Stadtsoldaten, Gerichtssöldnern, Bütteln aller Art und Schichten und vor den Gassenvögten. Niemand hatte Zutritt, wenn er nicht zuvor Verbindung aufgenommen hatte und die Parolen kannte. Aber wer einmal Asyl in Whitefrairs oder St. Martin’s le Grand gefunden hatte, kam nie mehr zurück in das normale Leben und war, normalerweise, nicht weniger gefangen, als säße er in Newgate Prison.
    Das Asylum war ein Dorf für sich, mit eigener Regierung, den Stärksten, Frechsten, Rücksichtslosen, die das Sagen hatten, mit eigener Versorgung, Märkten, Läden, mit fliegenden Händlern und was dazugehörte. Es gab kaum etwas, was nicht zu haben war oder für das derjenige, der es haben wollte, das Asyl verlassen musste. Niemand, der auf der Flucht vor städtischen Behörden war, verließ es wieder, und kein Bediensteter, kein Wächter, kein Soldat hätte je gewagt, jemandem bis Whitefrairs and within zu folgen – wenn doch, so wäre er dem Stadtbezirk kaum mehr an Leib und Seele heil entronnen.
    Die kleine Prozession verließ Bucklesbury, kreuzte Cheapside und betrat den Norden mit seinen tausend engen, dunklen Höfen und Ruinen, mit seinen Kellern, Höhlen, baufälligen Scheunen und verborgenen Remisen.
    Andrew ging voran. Raspale folgte mit dem großen Sammelbuch und einer Ledertasche, neben ihm ging Margaret und hinter ihr der Knecht, der sie beschützen sollte; darauf hatte Lady Alice am frühen Morgen noch gepocht, als nach dem Frühstück zum Abschied erst gebetet, dann ein frommes Lied gesungen worden war. Margaret hatte ihrem Vater unter Tränen sehr gedankt, sie hatten sich versöhnt. Es sei ein Abschied, sagte Thomas, der in ein frohes Wiedersehen münden werde. Er gab Andrew seine Hand und hielt sie eine Weile fest. Man werde Clifford vor den Richter bringen, das sei abgemachte Sache. Aron Boggis werde hingerichtet. Thomas hatte für Raspale ein paar Instruktionen wiederholt, der letzte Segen war gesprochen worden und Lady Alice hatte Margarets Tränen abgewischt. Dann war die kleine Gruppe schließlich aufgebrochen.
    Jetzt lief Margaret etwas schneller und erreichte Andrew, nahm seine Hand und hielt sie fest. Sie hatten Angst, doch noch entdeckt zu werden. Vor einem Haus wurde einem Kind ein Zahn gezogen. Vier Männer hielten es. Es schrie erbärmlich, dass es von den Wänden widerhallte. Der Arzt und Bader fluchte, spuckte selber Blut, vielleicht weil er sich vor Aufregung und Wut den eigenen Mund zerbissen hatte. Er schrie das Kind an, es solle ruhig bleiben, sonst könne er den Zahn nicht fassen. Er fuchtelte mit seiner Zange. Die Männer fluchten, das Kind entwand sich ihnen mehrmals, sie packten es, sie schlugen es und zwangen es erneut, sich hinzusetzen. Das Kind war etwa sieben oder acht, schätzte Margaret. Ein Mädchen. Es hatte blondes, straff in ein Netz gerolltes Haar und drüber eine offene, bestickte Haube, nicht eben sauber und an den Säumen eingerissen. Andere Kinder standen in der Nähe, vielleicht Geschwister. Sie starrten wie gelähmt, die Blicke flogen hin und her, auch zwischen dem Mädchen und einer Frau, die schief auf einem Stuhl saß, laut weinte und von einer zweiten Frau gestreichelt und getröstet wurde.
    Andrew zog Margaret weiter. Sie folgten einer Häuserzeile, die hier nach links sprang und den Blick freigab auf das düstere, verfallene Karmeliterkloster, hinter dessen Mauern der alte Freibezirk Asylum

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