Die Seelenpest
Whitefrairs seine Grenze hatte.
Der Eingang lag hinter einer Insel junger Birken. Zerlumpte Kinder spielten dort. Von drüben her spähten ein paar Kerle neugierig herüber. Sie hatten Messer und leckten drohend an den nackten Klingen, pfiffen, warfen Kot und Steine.
»Glaubt ja nicht, wir gestatten euch hereinzukommen!«, schrie einer.
Raspale ging näher heran.
»Sag die Parole!«, schrie ein Zweiter. Sie hoben ihre Spieße, Keulen, Schwerter hoch.
»Jacobus intercisus«, rief Raspale. »Wir haben Geld. Der König ist uns auf den Fersen.«
»Das sagen alle! Wie viel Geld?«
»Genug für alle! Und ich zeige euch etwas, das ihr nie zuvor gesehen habt. Ich flieg vor euren Augen wie ein Vogel.«
Die Männer lachten. »Der Jahrmarkt ist in Southwark, drüben auf der anderen Seite.«
Raspale winkte Andrew zu. Er löste sich von Margaret, die ihm ängstlich folgte. In kurzem Abstand betraten sie den Birkenhain und gingen auf die Asylumswärter zu. Der Knecht blieb stehen, wünschte Glück und kehrte um.
Raspale gab den Wärtern Geld, die es misstrauisch prüften. Dann durften sie den Freibezirk betreten. Sie gingen weiter, durch den weiten Klosterhof auf einen Burgfried oder Schutzturm zu, der alle Dächer der Umgebung überragte.
Neugierige sammelten sich, Kinder, die in Lumpen liefen. Die meisten trugen Spieße bei sich, Bögen, Hellebarden. Raspale bestieg die Treppe, die außen in die Höhe führte. Andrew blieb dicht hinter ihm, er blickte um sich. Die Treppe bebte, ächzte.
Auf halbem Weg drehte sich der Alte um. »Andrew Whisper, junger Mann, pass mir auf Margaret auf, sie ist wie meine Tochter. Ich könnte ohne sie nicht sein.« Er lachte abgehackt.
Andrew war außer Atem.
Raspale war als Erster oben angelangt. Er ging zur Brüstung und blickte mit einem süßen Schrecken auf das Meer der hundert Dächer, Türme, Spitzen, Masten, Zinnen. Der Blick reichte bis Hampstead und Harrow on the Hill am Horizont und noch unendlich weiter.
»Es regnet nicht, kein Wind«, rief Raspale. »Bestes Wetter für den letzten Sieg.« Er legte das Sammelbuch mit den Insektenflügeln auf den Holzboden und streifte die Ledertasche von den Schultern. »Dort unten liegt das Haus, wo ihr euch nachher bei einem Maximilian melden werdet, wenn ich zu Hause bin. Ein Mann mit einem Arm. Er weiß Bescheid, ihr wisst Bescheid…« Er zog seinen Mantel aus. »Denkt bitte an die Vögel, die Insekten, denkt an die Sterne, Wolken, Engel… nur ja die Engel nicht vergessen, denkt immer an die Engel!«
»Ja, Sir«, sagte Andrew. Auch Margaret musste es versprechen.
Die Dielen waren grau und rissig. Es gab Bohlen, die gebrochen waren. Raspale öffnete das Buch. Er nahm eine Pinzette und einen feinen Pinsel aus der Tasche und öffnete ein Fläschchen mit verdünntem Harz.
Der Alte knöpfte sich sein Hemd auf und zog es aus. Er setzte sich und nahm den Pinsel, tauchte ihn ins Harz und tupfte etwas auf seinen Arm. Dann nahm er den ersten Libellenflügel aus dem Buch und legte ihn behutsam auf die Haut. Er haftete sofort. Der zweite gleich daneben und ein dritter, bis das erste Muster fertig war und zugleich zart und überraschend wehrhaft wirkte.
Raspale klebte sich fast alle Flügel auf die Arme, auf den Hals, die Brust und auf die Beine. Es wurden hübsche Räder, Wirbel, Sterne, Strahlen und Mäander. Andrew und Margaret tasteten behutsam; es war, als hätte sich der Alte eine zweite Haut geschenkt.
»Ich werde auf die Brüstung klettern. Ich werde ruhig atmen. Ich werde lieben, glauben, Gott wird bei mir sein. Dann werde ich die Flügel heben…« Er kletterte hinauf, er schnaufte schwer. »Margaret, mein liebes Mädchen, werde glücklich und vergiss nicht, dass du in meinem Herzen bist, für immer…!«
Sie nickte irritiert und mochte gar nicht glauben, was geschah. Der Alte hob die Flügelarme in die Höhe. »Lebt wohl, Kinder, und habt Dank für alles! Haggai, Haggai …« Er drehte sich ein letztes Mal nach ihnen um. Dann spreizte er die Arme und ließ sich in die Leere fallen.
Margaret schlug sich die Hände vors Gesicht. Andrew sah hin und stieß sie an. Sie nahm die Hände von den Augen und sah Raspale so leicht wie eine Vogelfeder niedergehen.
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