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Die Seelenzauberin - 2

Die Seelenzauberin - 2

Titel: Die Seelenzauberin - 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Celia Friedman
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Wagnisses kam ihr gerade erst so richtig zu Bewusstsein. Selbst wenn ihnen das Schicksal gnädig war und sie wohlbehalten in die Zitadelle gelangten, den Turm erstiegen, den sogenannten Thron der Tränen ausfindig machten – und seine Kräfte in die gewünschten Bahnen leiteten –, wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich hinterher auch wieder entfernen konnten und mit heiler Haut ungehindert die Heimat erreichten? Niemand hatte diese Frage bisher laut gestellt, aber Gwynofar wusste, dass sie in allen Köpfen herumspukte. Kamala konnte in ihrer Vogelgestalt zwar die Nachricht von ihren Entdeckungen nach Hause bringen, aber sie konnte keine Menschen befördern.
    Immer einen Schritt nach dem anderen , ermahnte sie sich. Beschäftige dich erst einmal mit dem, was vor dir liegt.
    Endlich hatten sie den Fuß des Turms erreicht. Der Erdboden ging über in Geröll, und darüber erhob sich kalt und feucht der nackte Fels. Der Hauptmann führte sie den kurzen Hang hinauf unter ein ausladendes Sims. Falls oben Wachposten stünden, wären sie hier nicht zu sehen. Der Vorsprung war breiter, als Gwynofar nach den Bildern, die sie sich zur Vorbereitung angesehen hatten, erwartet hätte. Eigentlich wirkten alle plastischen Merkmale aus der Nähe viel imposanter als gedacht.
    Das veranlasste sie schließlich, am Rand des Simses vorbeizuspähen, um sich das ganze Bauwerk im Original anzusehen.
    Es ragte – erhaben, hochmütig, unermesslich – in den Morgenhimmel empor. Genau in diesem Moment trafen die ersten Strahlen der Morgensonne seine Spitze und setzten ihm eine feurige Mütze auf. Der Anblick war schwindelerregend; Gwynofar fühlte sich geradezu erdrückt vom Gewicht der massiven Wände, die sie aufzufordern schienen, auf ihre Festigkeit zu vertrauen – sich sicher zu fühlen.
    Rhys legte ihr die Hand auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit auf das Nächstliegende zu lenken. Die Männer zogen bereits die Stiefel aus, und sie tat es ihnen gleich. Lazaroth hatte nach den Angaben der Heiligen Hüter nicht nur spezielle Kletterschuhe bereitgestellt, sondern für den Weg bis zum Turm auch für besonders weiche Stiefel gesorgt. Das Leder der hautengen Kletterschuhe war so dünn, dass Gwynofar jede Unebenheit im Fels spürte, und Lazaroth hatte in die Sohlen etwas eingefügt, damit sie besser hafteten. Sie versuchte, einen Fuß auf dem taunassen Fels nach vorne zu schieben, und war erstaunt, wie schwer ihr das fiel. Die Erkenntnis hätte sie beruhigen müssen – schließlich war sie der Beweis, dass noch ein weiterer Zauber so wirkte, wie er sollte –, doch genau das Gegenteil trat ein. Zum ersten Mal, seit sie Keirdwyn verlassen hatte, kam ihr die Größe der Aufgabe vollends zu Bewusstsein. Wieder schaute sie zu dem Monument auf – die gesamte Spitze erstrahlte vor dem immer heller werdenden Himmel, als stünde sie in Flammen – und dachte, jäh von Übelkeit erfasst: Da müssen wir hinauf!
    Der erste Teil des Anstiegs führte über eine Reihe von schrägen Formationen, die ihr kaum mehr abverlangen würden als einige der Felsen, die sie als junges Mädchen erklommen hatte. Doch danach ragte die Wand des Monuments plötzlich senkrecht auf, sie konnte kaum Griffe erkennen, und außer den spitzen Felsen am Fuß gab es nichts, was einen Sturz abfangen würde. Ullar hatte entschieden, zuerst sollten seine Späher diesen Teil abschnittsweise erklettern und Gwynofar dann nachziehen. Als sie das Monument nun aus der Nähe sah, war sie froh über diesen Plan. Sie erinnerte sich an Ramirus’ Warnung, ihre durch Zauberei verstärkten Körperkräfte könnten ihre Koordination beeinträchtigen. Nein, diese steile Fassade wollte sie auf keinen Fall allein bewältigen.
    Rhys trat zu ihr, legte ihr ein dickes Seil um die Taille und verknotete es so, dass vorne eine feste Schlaufe entstand. Ein anderer Mann trug alle Teile der Ausrüstung zusammen, die nicht gebraucht wurden, stapelte sie in einer dunklen Felsspalte und bedeckte sie mit einem grauen Tuch in der Farbe ihrer Kleidung. Aus einiger Entfernung müssten die Sachen so gut wie unsichtbar sein. Die ganze Zeit über sprach niemand ein Wort. Die Stille war unheimlich. Jeder tat, was von ihm erwartet wurde, vermied dabei aber auch das kleinste Geräusch, das der Feind hätte hören können. Alle waren sie außerstande, vorherzusagen, wie lange Ramirus’ Zauberei sie schützen würde; sie mussten sich so verhalten, als gäbe es außer ihrer eigenen Vorsicht nichts, was

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