Die Seelenzauberin - 2
zitternden Beine, sein Gewicht zu tragen. Was hatte er denn für eine andere Wahl? Die Götter beobachteten ihn, und wenn er vor ihnen Schwäche zeigte, konnte er sich auch gleich zu den anderen Opfern in den Vulkankessel stürzen und sich verschlingen lassen.
Als er glaubte, seinen Beinen wieder vertrauen zu können, holte er so tief Luft, wie seine gemarterten Lungen es ihm erlaubten, schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln, und stieß einen Schrei aus, den kein lebendes Wesen überhören konnte. Wortlos schallte er über die Kaldera und hinein in die brodelnden Wolken.
Die Götter kreisten unbeirrt weiter, aber er wusste, dass sie ihn gehört hatten.
Er schlug die Augen wieder auf und suchte nach dem einen Gott mit dem menschlichen Reiter. Der war als Einziger nicht heruntergeflogen, um zu fressen, sondern kreiste hoch über den anderen. Hatte er ihn gesehen? Würde er seine Worte hören, wenn er ihn anriefe? Unter ihm grollte der Vulkan, und die Bimssteinbrocken unter seinen Füßen bewegten sich leicht. Äußerten sich die Götter in Tönen wie Tiere und Menschen, oder dienten ihnen die Vulkane als Sprachrohr? Man wusste so wenig über sie!
Dann heftete sich das Auge des Reiters auf ihn – menschliche Augen, aufreizend verächtlich –, und er begriff, dass er seine Chance sofort ergreifen musste, sonst wäre sie für immer dahin.
»Nehmt mich mit!«, forderte er. »Ich will den Göttern dienen!«
Es schien zunächst, als hätten ihn weder der Reiter noch sein Tier gehört. Also wiederholte er die Bitte noch lauter.
Wieder grollte der Berg unter seinen Füßen. Ein Schwall heißen, brennenden Schwefelrauchs stieg ihm in die Nase.
»Ich bin stark!«, rief er. »Ich habe die Kälte des Eises und die glühenden Steine der Feuerprobe überlebt! Ich habe den Seelöwen gejagt und dem Schneebären die Stirn geboten! Ich bin tapfer genug, um mich dem Zorn der Erde zu stellen …«
Tapfer genug, hierherzukommen , wollte er sagen. Tapfer genug, um den Opferberg zu besteigen und mich unbewaffnet vor euch hinzustellen, ohne Harnisch, ohne jeglichen Schutz vor dem Zorn der Götter außer meiner hartnäckigen Überzeugung, dass ich ihnen nützlich sein kann.
Die Augen des Mannes waren kalt und starr. Wie Echsenaugen.
Dann wandte er sich ab.
Der Junge heulte vor Wut. Es war der Schrei eines Tieres, der da, von seiner menschlichen Seite ungerufen und ungewollt, aus den Urtiefen seiner Seele hervorbrach. Eines der Mädchen schaute auf, um zu sehen, woher der Laut kam, wandte sich aber rasch wieder den geflügelten Bräutigamen zu. Erkannte sie in ihm den Jungen, mit dem sie herumgelaufen war, mit dem sie gespielt und Geheimnisse geteilt hatte? Oder sah sie nur ein rußgeschwärztes Tier, das den Himmel anbellte wie ein sterbender Seehund unter den Zähnen eines Raubtiers?
Dann schloss einer der Götter seine Klauen um das Mädchen und riss sie vom Boden hoch. Ihr Kopf fiel mit lautem Knacken nach hinten. Offenbar hatten die Götter doch Appetit auf frisches Fleisch.
Keiner von ihnen nahm von dem Jungen Notiz.
Kein einziger.
»Nehmt mich mit!«, brüllte er enttäuscht mit heiserer Stimme. »Ich gehöre zu euch!«
Die Götter hatten abgehoben und strebten wieder den Wolken zu. Einige hielten kleine Mädchengestalten wie schlaffe Puppen in den Klauen. Das Opfer war angenommen worden.
Der Reiter sah sich noch einmal nach dem Jungen um, dann wandte er sich ab. Sein Reittier legte abermals die durchsichtigen Flügel um ihn und schraubte sich höher und höher.
» NEHMT MICH MIT !!!«
Etwas traf den Jungen so hart im Rücken, dass ihm die Luft wegblieb. Beinahe wäre er in den Vulkankessel gestürzt, doch scharfe Klauen erfassten ihn, rissen ihn mit einer Schnelligkeit, die ihn schwindeln machte, von den Füßen und trugen ihn durch die Luft. Die Welt unter ihm schwebte in einzelnen Bildern durch sein Blickfeld, zusammenhanglos, unwirklich, Wirbelströme aus giftigem Rauch, blau-schwarze Schwingen, die über seinem Kopf die Luft bewegten und den Boden nach unten wegstießen, weiter und immer weiter … Hinter dem Land der Sonne erstreckte sich in der Ferne ein riesiges weißes Feld von Horizont zu Horizont. Es hatte kein Ende. Es kannte keine Gnade.
Ich werde euch dienen , gelobte er den Göttern. Besser als jeder andere. Ihr werdet schon sehen.
Doch die Götter antworteten nicht.
Der Anfang
Und so geschah es, dass die Ersten Könige den Wunsch verspürten, allen Menschen ihre Macht und Größe kundzutun.
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