Die Seelenzauberin - 2
dass sie dahinter kaum etwas erkennen konnte. Das Gespinst selbst verschwamm, aber die Schrift blieb gestochen scharf. Verzweifelt versuchte Kamala, genügend Macht aufzubieten, um sie zu entziffern, aber die Macht verweigerte sich ihr. Schlimmer noch, die leuchtenden Buchstaben schienen ihr die Energie zu entziehen, als speisten sie sich aus ihrem eigenen Athra. Der Bann, der sie umgab, sog alle Macht aus ihrer Seele …
»Es war ein Unfall!«, schrie sie. Wollte sie schreien. Ihre Kehle war trocken und rau, sie konnte sich kaum einen Laut abringen, an verständliche Worte war nicht zu denken. »Ich wollte ihn nicht töten!« Das bisschen Stimme, das sie hervorbrachte, schien ebenfalls von den Leuchtbuchstaben aufgesogen zu werden; sie schwebten pulsierend auf sie zu. Die Bannmauer dahinter war vollends dunkel geworden, es gab nur noch die unbekannten Symbole, die vor ihr in der Luft schwebten und darauf warteten, dass sie ihnen noch mehr von ihrer Lebensenergie opferte. Sie würden alles schlucken, was sie beschwor, und alle Zauber verschlingen, die sie wirkte, um sich zu retten.
Mit einem Schlag verschwand auch dieses Licht, die Buchstaben flackerten und erloschen, und alles war dunkel. In ihrer Panik wollte sie auf die Barriere einschlagen, aber sie kam nicht weit, bevor sie auf massiven Stein traf. Und überall fand sie das Gleiche: Fels auf allen Seiten, auch über und unter sich, grob behauen, gewiss nicht natürlich entstanden.
Sie war eingemauert.
Sie scharrte an der unsichtbaren Wand, bis ihr das Blut unter den Nägeln hervorquoll. Vergebens. Sie ertastete primitive Zeichen, die in die raue Oberfläche gemeißelt waren. Buchstaben. Überall. Zaubersprüche – mächtige Zaubersprüche –, die ihr langsam, aber sicher alle Lebenskräfte stehlen würden, um sie umzuwandeln in …
In was? Was wollten sie? Was geschah mit ihr?
Sie stieß einen wortlosen Schrei aus. Öffnete den Mund und ließ ihr Entsetzen hinausströmen, bis die Steinmauern unter der Wucht des Lautes erbebten. Sicherlich würden die Tiere draußen das Echo vernehmen und fliehen …
Und dann fand sie sich auf einem Lager aus Blättern wieder – und es gab kein steinernes Grab.
Keine Worte der Macht.
Keine Magister.
Zunächst lag sie einfach nur benommen da und suchte zu begreifen, was geschehen war. Ihr Herz schlug so wild, als wollte es ihr die Brust sprengen. Sie war in kalten Schweiß gebadet. Ihre Hände, ihre Hände … sie hielt sie vors Gesicht. Sie waren unverletzt. Kein Blut. Kein Blut.
Die plötzliche Erleichterung war mehr, als sie ertragen konnte; Würgekrämpfe schüttelten sie, sie drehte sich zur Seite und erbrach das Entsetzen der vergangenen Stunde. Der Anfall schien kein Ende zu nehmen.
Es war ein Traum , dachte sie, als es endlich doch vorüber war. Sie lag auf dem felsigen Untergrund und hätte am liebsten die beschmutzte Erde unter ihrer Wange geküsst, so froh war sie, wieder in die wirkliche Welt zurückgekehrt zu sein.
Doch dann: Nein, das war mehr als ein Traum.
Sie hatte nie unter Albträumen gelitten. Selbst in den düstersten Tagen ihrer Jugend, die ihr mehr Schmerzen zugefügt hatten, als irgendein junges Mädchen je erleiden sollte, war ihr Schlaf von solchen Qualen frei gewesen. Ihr Bruder war immer wieder mitten in der Nacht weinend aufgewacht und hatte etwas von Finsternis und Ungeheuern gewimmert, sie selbst kannte das nicht. Ihre Ungeheuer waren bei Tag auf Erden gewandelt und hatten sich mit schmutzigem Geld das Recht erkauft, sie zu missbrauchen; der Schlaf war ihre einzige sichere Zuflucht gewesen.
Der Heilige Zorn war bekannt dafür, dass er den Menschen Albträume bescherte. Sie war darauf gefasst gewesen, als sie den Fuß in dieses Gebiet setzte; dennoch hatte sie das Risiko auf sich genommen, um den beiden Heiligen Hütern zu folgen. Aber dies … dies war mehr gewesen als ein einfacher Albtraum. Das wusste sie, ohne ganz zu begreifen, woher dieses Wissen kam. Es war eine Vision, und diese Vision wollte ihr etwas sagen. Doch was davon war von Bedeutung, und was war nur die Ausgeburt ihrer eigenen Ängste? Sie hatte keine Ahnung, wie sie Ordnung in das Chaos bringen sollte. Und doch war die Botschaft wichtig. Das sagte ihr ein Instinkt, und sie wusste es mit der gleichen Sicherheit, mit der sie wusste, dass jeden Morgen die Sonne aufging.
Der Hüter wüsste die Botschaft ohne Zweifel zu deuten. Doch sie wagte nicht, ihn zu fragen.
Es war ein kühler Morgen. Fröstelnd wischte sie
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