Die Seelenzauberin
Tatsache gab es nichts zu rütteln. Wäre sie auf ihrem Posten geblieben, während die Hüter den Felsturm bestiegen, so hätte sie gesehen, wie die Soldaten den obersten Raum betraten, und hätte Rhys’ Männer rechtzeitig warnen können. Damit wäre verhindert worden, dass sie in die Falle liefen.
Ich habe beobachtet, wie von der Zitadelle aus Alarm gegeben wurde , dachte sie. Die Botschaft musste ich abfangen.
Und wenn es gar nicht der vermutete Alarm gewesen war? Der kleine Lederzylinder mit der Nachricht lag noch ungeöffnet in ihrer Tasche. Jedes Mal, wenn sie ihn herausnahm, zitterten ihr die Hände so heftig, dass sie die Schnalle nicht öffnen konnte. Ein Ruf an die Seelenfresser, die Zitadelle zu beschützen, hätte das Risiko, das sie eingegangen war, durchaus gerechtfertigt; schon eine einzige der großen geflügelten Kreaturen hätte sowohl die unsicher in der Wand hängenden Krieger als auch Gwynofar herunterpflücken können. Auch dann wären alle Männer tot gewesen, und sie hätten nicht einmal ihren Auftrag erfüllt, während so zumindest die Mission erfolgreich gewesen war. Jeder von den Hütern hätte sicherlich ebenso entschieden.
Aber wenn es bei der Botschaft um ganz andere Dinge gegangen war?
Kamala blickte auf die reglose Gestalt nieder und hatte Mühe, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Rhys selbst hatte den Tod sicherlich nicht gefürchtet. Auch bevor Alkals Speer seine Moral untergraben und ihn dazu gebracht hatte, sich nach dem Frieden des Todes zu sehnen, hatte er sein Leben einer Aufgabe gewidmet, die fest in der Vorstellung des Selbstopfers gründete. Er hatte ihr einmal gesagt, er würde hoch erhobenen Hauptes in die Hölle marschieren, wenn er seinen Brüdern damit einen Vorteil vor ihren geflügelten Gegnern verschaffen könnte. Und daran zweifelte sie nicht. Er hatte das Leben geliebt, aber die Pflicht hatte ihm mehr bedeutet.
Sie streckte die Hand aus und berührte sanft seine Wange; unter dem Schleier war die Haut kühl. Wie mochte es sein, wenn man eine höhere Macht oder ein Ziel über das eigene Leben stellte? Die Vorstellung war ihr so fremd, dass sie kaum die Frage formulieren konnte. Sie selbst hatte von frühester Jugend an nur ein einziges Ziel vor Augen gehabt und war bereit gewesen, alles zu opfern, um es zu erreichen. Sogar ihre Menschlichkeit. Und was hatte es ihr am Ende eingebracht? Ewiges Leben … und wozu? Im Angesicht von Rhys’ Leichnam wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie auf diese Frage keine Antwort hatte. War das der Grund, warum die Magister so viel Zeit und Energie auf ihre ewigen Rivalitäten verwendeten? Nicht etwa, um die Langeweile der Jahrhunderte zu bekämpfen, wie sie selbst behaupteten, sondern um ihrem Leben die Illusion von Sinnhaftigkeit zu geben?
Ein Schauer überlief sie, sie beugte sich über Rhys und küsste ihn sachte auf die Stirn. Und in diesem Moment bekam das Gefühl, das sie so sehr beunruhigte, einen Namen.
Neid.
Sie ergriff das Ritualmesser mit der gebogenen Klinge, schnitt sich damit eine Locke ab und legte sie neben ihn. Dann band sie die Strähne mit ihrer Macht so fest an das Bahrtuch, dass ohne einen magischen Ringkampf kein einziges Haar entfernt werden konnte. Sie spürte Colivars Blick in ihrem Rücken, als sie diese Gabe im Stil der Morati darbrachte, aber sie schaute nicht auf. Rhys hatte sein Leben geopfert, er hatte sich diese Ehre verdient.
Dann reichte sie das Messer weiter und trat selbst in die Schatten zurück. Der Zug der Trauernden dauerte noch mehr als eine Stunde – Heilige Hüter und Liebespartner, Soldaten und Freunde –, bis der Leichnam ganz und gar von Geschenken umringt war. Dann wurde vorsichtig eine zweite Leinwand über die Bahre gebreitet und an den Ecken festgebunden, damit der Wind die Opfergaben nicht verwehen konnte. Schließlich ergriffen mehrere Hüter die Stangen an beiden Enden, hoben die Bahre an und trugen sie zu dem bereits aufgerichteten Scheiterhaufen. Bald lag Rhys auf einer Pyramide aus Holzscheiten, die den würzigen Duft des Waldes verströmten. Ein Priester umkreiste laut betend den Stapel drei Mal mit einer Fackel, dann hielt er die Flamme an den trockenen Zunder. Augenblicklich erfüllte der Geruch nach verbrannten Kiefernnadeln die Luft, die Flammen schlugen hoch, für einen glorreichen Augenblick war Rhys von flimmernden Lichtschleiern umhüllt, dann ging die ganze Bahre in Flammen auf. Kamala wusste, dass man am Ende seine Asche und die Knochen einsammeln
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