Die Seevölker
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der heroische König der 20. Dynastie. Mit dem Ende dieser Dynastie
beginnt jene Epoche, die man als Spätzeit bezeichnet, um sie gegen-
über dem Neuen Reich abzugrenzen. Im anerkannten Schema umfaßt
diese Spätzeit den Zeitraum vom Ende der 20. Dynastie in den letzten
Jahren des 12. Jahrhunderts bis zum Erlöschen der letzten Dynastie
einheimischer Könige – der 30. Dynastie –, zehn Jahre vor der Erobe-
rung Ägyptens durch Alexander von Makedonien.
Nach Berechnung der heutigen Historiker begann die Regierungs-
zeit Ramses' III. im Jahr –1200 oder nur kurze Zeit später.1Das bedeu-
tendste Ereignis während seiner Regierungszeit war der erfolgreiche
Widerstand gegen die von Norden kommenden Heere. Auf ihren Er-
oberungszügen drangen die aus dem Norden anstürmenden Horden
bis unmittelbar vor die Tore Ägyptens vor – des größten und ruhm-
reichsten aller Königreiche. Zu allen Zeiten ist Ägypten das Ziel der
Eroberer gewesen – der Assyrer Asarhaddon und Assurbanipal, des
Persers Kambyses, des Griechen Alexander von Makedonien, des Rö-
mers Pompejus, des Arabers Omar, des Türken Selim und des Korsen
Napoleon; und schon vor ihnen führte ein unbekannter Führer oder
eine Gruppe von Anführern bewaffnete Gruppen zu den Wassern des
Nils. Aber Ramses III. zeigte sich diesem Ansturm gewachsen. Er be-
kämpfte die Invasoren zu Lande und zur See und hielt die Flut auf, die
Ägypten zu verschlingen drohte.
Dieser Krieg ist bekannt als der Krieg gegen die Seevölker und ge-
gen die Inselvölker, wie Ramses III. sie nannte.2 Historische Texte und
in Stein gehauene umfassende Darstellungen, welche diesen Krieg und
den entscheidenden Sieg des Pharao erklären, sind in Ägypten erhal-
ten. Doch auf welchem Weg durch den Mittleren Osten die vordrin-
genden Truppen vor ihrem Eintreffen an der ägyptischen Grenze da-
hinstürmten, ist aus historischen Quellen – literarischen wie auch ar-
chäologischen – nicht bekannt. Es lassen sich nur bestimmte Schlußfol-
gerungen ziehen. Das Griechenland der mykenischen Zeit, das hethiti-
1 Ed. Meyer datiert den Beginn der Regierungszeit Ramses' III. in das Jahr –1200, Alan
H. Gardiner ( Egypt of the Pharaos 1961) in das Jahr –1182 und Rowton (Journal of Egyptian Archaeology, Bd. XXXIV) in das Jahr –1170.
2 Wenn Ramses III. von den »Seevölkern« spricht, nennt er speziell die Tjeker, die
Schekelesch, die Teresch, die Weschesch und die Scherden (bzw. Sardan); die Denien
bezeichnet er als »Inselvölker« .
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sche Reich und viele kleinere Königreiche wurden durch die wan-
dernden und erobernden Seevölker hinweggefegt. Dies wird aufgrund
der Tatsache unterstellt, daß alle diese Königreiche und Imperien um
das Jahr –1200 ausgelöscht wurden. Für die nachfolgenden vier bis
fünf Jahrhunderte gibt es weder Berichte noch Relikte von ihrer Exi-
stenz und kaum irgendwelche Spuren von der überlebenden Bevölke-
rung dieser Länder.
Was können Griechenland und die ägäischen Inseln – einschließlich
Kreta – in der Zeitspanne von –1200 bis –750 oder gar –700 vorweisen?
Nach dem Ende der mykenischen Epoche und dem Fall von Troja ver-
hüllt Finsternis die Geschichte dieser Gegenden, und die ersten Licht-
strahlen durchdringen dieses Gebiet erst wieder zu Beginn des griechi-
schen bzw. ionischen Zeitalters, also um –700. Wie aus dem Nichts
taucht vor uns plötzlich die Dichtung Homers auf, und die Vertraut-
heit dieses Dichters auch mit den geringsten Details des Lebens in dem
fünf bis zehn Jahrhunderte zurückliegenden mykenischen Zeitalter löst
unter den Gelehrten immer wieder Verwunderung und endlose De-
batten aus.
Die Jahrhunderte von –1200 bis –750 bezeichnet man als die Dunk-
len Zeitalter. Sie waren nicht dunkel im Sinne des Begriffs, wie er auf
die Periode der europäischen Geschichte zwischen dem Ende des Rö-
mischen Reiches +475 und dem Ende der Kreuzzüge in den Vorderen
Orient angewandt wird. Diese Jahrhunderte vom Ende des fünften bis
zur Mitte des 13. Jahrhunderts neuer Zeitrechnung stellen einen Rück-
schritt in den Bereichen der Gelehrsamkeit, des Handels, der Verwal-
tung und des Rechts dar, wenn man sie mit der Zeit des Römischen
Reiches vergleicht, aber sie sind reich dokumentiert durch zahlreiche
historische Relikte und literarische Zeugnisse; dagegen bezeichnet man
die Dunklen Zeitalter zwischen –1200 und –750 als dunkel, weil uns
weder in
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